Ernst Langthaler

Agro-Food Studies


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in der industrialisierten Welt erschwinglich wurden. Die Versorgung mit regionalen Qualitätsprodukten hingegen scheint in Nordamerika und weiten Teilen Europas bis dato eher ein Privileg der besser verdienenden und höher gebildeten Schichten.

      Globalisierte und regionalisierte Wertschöpfungsketten lassen sich als die beiden Seiten ein und derselben Medaille interpretieren. Regionalisierte Systeme wie Lebensmittelkooperativen oder die solidarische Landwirtschaft werden mitunter aber auch als Nischen gesehen, die das vorherrschende → Nahrungsregime herausfordern und so zu einem Regimewechsel beitragen könnten (→ transition theory). Im folgenden Abschnitt werden globale und regionale Lebensmittelsysteme allerdings als zwei dynamisch in Austausch stehende und sich ergänzende Pole eines Kontinuums unterschiedlicher Einbettung diskutiert.

      3.4.2 Kontinuum sozialer Einbettung

      Die hier auch aus didaktischen Überlegungen skizzierte Dichotomie globaler und regionaler Lebensmittelsysteme ist weitgehend analytisch und entspricht nicht der vielfältigen Realität und Dynamik der realen Interaktionen von MarktteilnehmerInnen entlang unterschiedlicher Warenketten. Was für die wissenschaftliche und analytische Betrachtung hilfreich sein mag, beschreibt sehr idealisierte Formen der Lebensmittelproduktion, die in dieser Reinform in der Realität kaum zu finden sind.

      Auch entlang internationaler Wertschöpfungsketten gibt es langfristige Beziehungen, die auf einem engen persönlichen Kontakt zwischen VerkäuferIn und KäuferIn beruhen. Nicht alle internationalen Transaktionen stützen sich auf formale Lieferverträge, die alles im kleinsten Detail unter Androhung von Strafzahlungen regeln. Manche beruhen auch auf vertrauensbasierten und langfristigen Austauschbeziehungen. Sind einmal gut funktionierende Wirtschaftsbeziehungen zu einem Zulieferbetrieb aufgebaut, wollen Betriebe auch weiterhin mit ihm kooperieren, um jene Kosten und Risiken zu vermeiden, die mit der Suche und Etablierung neuer Lieferbeziehungen verbunden sind. Erfahrungen zeigen also, dass die Verkaufs- und Einkaufsbeziehungen entlang globalisierter Ketten nur selten dem Ideal des neoklassischen Spotmarkt-Modells entsprechen, d. h. nur in wenigen Fällen kurzfristige, automatisierte und anonymisierte Transaktionen basierend auf standardisierten Verträgen darstellen.

      Umgekehrt verlassen sich auch regionale Lebensmittelsysteme nicht ausschließlich auf langfristig etablierte Wirtschaftsbeziehungen und positive Erfahrungen vergangener Zusammenarbeit. Auch eine Person, die zum ersten Mal auf einem lokalen Markt einkauft oder in einem neuen Restaurant zu Gast ist, will sich darauf verlassen können, dass die am Marktstand oder auf der Speisekarte beworbenen Lebensmittel tatsächlich mit jenen im Einkaufskorb oder auf dem Teller übereinstimmen. Umgekehrt können auch langfristige Austauschbeziehungen enttäuscht werden bzw. sich vorwiegend am Preis orientieren und instrumentell auf den persönlichen Vorteil ausgerichtet sein (Hinrichs 2000). Persönliche Beziehungen mögen zwar eine Voraussetzung für Vertrauen sein, sie sind jedoch keine hinreichende Bedingung dafür, dass Fehlverhalten, Opportunismus und Betrug auch tatsächlich in jedem Fall verhindert werden können (Granovetter 1985). So profitieren wohl auch KonsumentInnen regionaler Lebensmittel von der staatlichen Lebensmittelaufsicht, die Hygiene- und Qualitätsstandards in Verkaufsstätten und Gastronomiebetrieben kontrolliert oder überprüft, ob die angepriesenen Lebensmittel mit den tatsächlich verkauften übereinstimmen. Strenge Qualitäts-, Sozial- und Umweltstandards – gekoppelt mit externen Kontrollen – können ebenso zu Sicherheit und Vertrauen beitragen wie langfristige, auf wiederholte persönliche Interaktionen ausgerichtete Austauschbeziehungen.

      Zudem kombinieren landwirtschaftliche Betriebe Regionalisierungsstrategien wie etwa die Direktvermarktung mit der Ablieferung von Produkten an Großhändler zur Verbreitung auf internationalen Märkten. Die wenigsten KonsumentInnen ernähren sich ausschließlich von regionalen Lebensmitteln (Lokavoren oder 100-Meilen-Diät). Die meisten kombinieren Produkte unterschiedlichster Herkunft bzw. wissen gerade beim Außer-Haus-Konsum gar nicht, woher die von ihnen verzehrten Lebensmittel kommen.

      Global und regional organisierte Wertschöpfungsketten sind nicht voneinander abgeschottete Systeme, vielmehr beeinflussen sie sich gegenseitig. So bieten auch ProduzentInnen regionaler Spezialitäten Online-Versand bis ins Ausland und Convenience-Produkte, die sonst vor allem von etablierten Vertriebsformen angeboten werden. Umgekehrt greifen international agierende Supermarktketten das Bedürfnis nach Regionalität auf, indem sie Regionalregale einrichten oder regionale ProduzentInnen einladen, ihre Produkte im Supermarkt persönlich vorzustellen. Multinationale fast-food-Ketten greifen das Bedürfnis nach Regionalität auf, indem sie mit der regionalen Herkunft ihrer Zutaten werben oder ihre Speisen an die jeweiligen lokalen Geschmackspräferenzen und Kulturen anpassen (Heterogenisierung; Robertson 1995). Global leicht kommunizierbare kulinarische Highlights wie etwa Pizza, Burger oder asiatische Wok-Gerichte werden beliebig mit Versatzstücken diverser „Ethnoküchen“ kombiniert (siehe Box 3.6). Umgekehrt werden bisher nur in einer konkreten Region produzierte und konsumierte Produkte so adaptiert, dass sie attraktiv für globale Märkte und den Massengeschmack einer breiten internationalen KonsumentInnenschaft werden (Homogenisierung). Aus diesem Verständnis heraus sind Regionalisierung und Globalisierung kein Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig. → „Glokalisierung“ – also die Gleichzeitigkeit von Homogenisierungs- und Heterogenisierungsprozessen, von Globalisierung und „Re-Regionalisierung“ – wurde in den 1980ern von japanischen Ökonomen als Marketingbegriff geprägt und später von Robertson (z. B. 1995) auch in den sozialwissenschaftlichen Diskurs eingebracht.

      McDonald’s steht für die globale Standardisierung der Esskultur. Doch u. U. stellt sich die → fast-food-Kette auch auf lokale Geschmacksvorlieben ein. So etwa werden in Norwegen McLaks, Sandwiches aus Vollkornbrot mit gegrilltem Lachs und Dillsauce, angeboten. In den Niederlanden wirbt der Groenteburger, ein vegetarischer Hamburger, um Kundschaft. In Uruguay gibt es McHuevos, Hamburger mit pochiertem Ei, und McQuesos, Sandwiches mit Käse. Japanische KundInnen können Chicken Tatsuta Sandwich, gebratenes Huhn mit Sojasauce, Ingwer, Kohl und Senfmayonnaise, bestellen. In Russland wird für Pirozhok, Kartoffeln mit Champignons und Käsekuchen, geworben. In Großbritannien äußert sich die Vorliebe für indische Küche in Gerichten wie McChicken Korma Naan und Lamb McSpicy. Nicht nur die McDonald’s-Produkte, sondern auch die sozialen Konsumpraktiken variieren nach lokalen Kulturen. So etwa gelten McDonald’s-Lokale in Beijing nicht als Orte des schnellen Essens, sondern als Treffpunkte, wo man stundenlang ‚herumhängt‘. Derartige Verbindungen von Globalem und Lokalem lassen sich als Ausdruck der „Glokalisierung“, der lokalen Aneignung globaler Einflüsse, begreifen (Ritzer 2006, 263–266).

      Zwischen den beiden Polen der globalisierten Produktion und der sehr kurzen, regionalen Ketten gibt es eine Vielzahl mehr oder weniger eingebetteter Zwischenformen. Als ein Beispiel dieser Mischformen seien rechtlich geschützte Herkunftsangaben vorgestellt, die auf Vertrauen und Langfristigkeit basierende regionale Wirtschaftsbeziehungen mit externen Kontrollen und internationalem Handel verbinden.

      Angaben zur geografischen Herkunft kommunizieren den Ort und die Standards der dortigen Produktion auch zu weit entfernten KonsumentInnen (Quiñones-Ruiz et al. 2016). Sie schützen regionale Betriebe vor der missbräuchlichen Verwendung der geografischen Bezeichnung durch Trittbrettfahrer außerhalb der Region (z. B., wenn Käse, der nicht aus dem Allgäu stammt, als Allgäuer Bergkäse vertrieben wird). Auch KonsumentInnen, die ein Produkt mit geschützter Herkunftsangabe weit entfernt vom Ort der Produktion kaufen, erhalten über das Label verlässliche Informationen zur Produktherkunft und können über die veröffentlichte Produktspezifikation die jeweiligen Standards der Produktion nachlesen, welche bei arbeitsteilig hergestellten und international gehandelten Lebensmitteln ansonsten in der Regel nicht nachvollziehbar sind.

      Während sich beim Wein die Verknüpfung von Qualität und Herkunft bis in die Antike zurückverfolgen lässt und weltweit inzwischen auch rechtlich durch die WTO anerkannt ist, waren geschützte Herkunftsangaben für andere Lebensmittel lange Zeit nur in einzelnen Ländern Südeuropas gebräuchlich. Nationalstaatliche Herkunftsbezeichnungen sind beispielsweise das französische AOC-Siegel