Ernst Langthaler

Agro-Food Studies


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Lebensmittel und Ernährung sind in dieser Hinsicht nicht nur als Gegenstand der Agro-Food Studies zu sehen. Vielmehr lässt die Versorgung der Menschen mit Nahrung zugleich erkennen, wie Produktions- und Konsumwelten sowie Mensch/Gesellschaft und Natur/Umwelt als Zusammenhänge gedacht werden können, deren Trennlinien lediglich das Ergebnis tradierter Ordnungsschemata sind. Viele grundlegende gesellschaftliche Phänomene lassen sich so durch das Prisma des Essens besser sehen und erklären.

      Die Konzeption des Buches als interdisziplinäre Einführung heißt auch, es lässt sich ohne fachspezifisches Vorwissen lesen, bietet aber zugleich viele Verweise auf einschlägige Fachdiskussionen und entsprechende Literatur. Es wendet sich vor allem an Studierende, die am Beginn ihrer Beschäftigung mit Themen der (kritischen und im weitesten Sinne sozialwissenschaftlich ausgerichteten) Agrar-, Lebensmittel- und Ernährungsforschung stehen. Da das Buch insbesondere zum Einsatz im Studium gedacht ist, u. a. zum Lehren und Lernen in Agrar- und Ernährungswissenschaften sowie in speziellen Lehrveranstaltungen der Soziologie, Kulturwissenschaften, Geografie, Ökonomie, Geschichte usw., hat es den Anspruch, ein Lehrbuch zu sein. Gleichwohl kann es nicht alle Erwartungen an ein klassisches Lehrbuch erfüllen: Es eignet sich nicht als Kompendium oder Nachschlagewerk, das objektives und gesichertes Wissen zu Fragen der Lebensmittelproduktion und Ernährung bereithält. Vielmehr macht es die Leserinnen und Leser mit wichtigen Diskussionen und Grundperspektiven vertraut und regt dazu an, vermeintlich eindeutige Zusammenhänge auch anders zu sehen. Damit wendet es sich nicht nur an Studierende, sondern auch an Leserinnen und Leser, die in Schule, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft an Fragen der Agro-Food Studies interessiert sind. Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Subsystemen ist eine sektorale Trennung von ‚Essensthemen‘ üblich: Im Zuschnitt von Behörden und betrieblichen Abteilungen oder in der ‚Zuständigkeit‘ journalistischer Rubriken spiegelt sich die strikte Differenzierung von Ernährungsfragen aus Sicht der Medizin und Ernährungsphysiologie, Technik, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft oder kulinarischen Kultur wider. Auch in dieser Hinsicht möchte das Buch zu einer Erweiterung von Perspektiven und zu einer besseren Verknüpfung von fachlichem Teilwissen beitragen. Nicht zuletzt richtet sich das Buch auch an Personen, die sich zivilgesellschaftlich für andere Lebensmittelsysteme engagieren. Grundsatzfragen der Agro-Food Studies – etwa: Was ist (bzw. was halten wir für) ein gutes Essen? Wie verändern sich Formen der Lebensmittelversorgung räumlich und zeitlich? Wer bestimmt, was wir essen und wie Lebensmittel produziert werden? Welche Konsequenzen hat unsere Ernährung für die Umwelt? Was wissen wir über die Herkunft und den Produktionszusammenhang unseres Essens? – sind auch jenseits des akademischen Diskurses von hoher gesellschaftlicher Relevanz.

      Das Buch erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht nicht darum, einen Gesamtüberblick über alle relevanten Konzepte auf diesem Feld der Agro-Food Studies zu geben, sondern darum, ausgewählte Perspektiven und Beispiele zu liefern und dabei die meisten von uns als besonders wichtig erachteten Fachbegriffe und Ansätze zu erläutern. Dazu bieten die einzelnen Kapitel eine kurze Zusammenfassung, eine Darstellung der jeweiligen theoretischen Leitperspektive sowie eine Ausführung anhand von empirischen und praktischen Beispielen. Zudem enthält jedes Kapitel Kontrollund Diskussionsfragen zum Rekapitulieren und zur Vertiefung. In einem Glossar am Ende des Buches werden die zentralen Fachbegriffe kurz erläutert. Da sich das Buch an ganz unterschiedliche Kreise von Leserinnen und Lesern richtet, wurde auf eine explizite didaktische Umsetzung der Inhalte verzichtet. Bei der Auswahl von Themen und Beispielen haben wir aber darauf geachtet, dass sie sich zur Verwendung in Lehrveranstaltungen wie auch zum Selbststudium und als Hilfe bei der Suche nach weiterführender Literatur eignen.

      Wir hoffen, mit diesem Buch zu einer Schärfung des Blicks auf Fragen des Essens und der Nahrungsmittelversorgung beizutragen. Wir empfehlen den Leserinnen und Lesern, sich kritisch mit Landwirtschaft, Lebensmittelverarbeitung und -handel sowie Ernährung auseinanderzusetzen und auch vermeintlich eindeutige und feststehende Fakten mit den dahinterstehenden dichotomen Denkmustern infrage zu stellen. Nicht zuletzt möchten wir Anregungen liefern, die helfen, eigene Positionen zu Agrar- und Ernährungsdebatten in Wissenschaft, Alltag und Praxis zu entwickeln.

      Dieses Kapitel beleuchtet die historische Entwicklung von Landwirtschaft und Ernährung jenseits des Gegensatzes von Tradition und Moderne. Es stützt sich dabei auf das Konzept des Nahrungsregimes, des aufeinander abgestimmten Wechselspiels von Wertschöpfungskonzentration entlang von Warenketten (Produktion, Distribution und Konsum) und deren Steuerung durch Akteure (Nationalstaaten, Unternehmen, Gewerkschaften usw.). Das Hauptaugenmerk gilt dem Zeitalter der Globalisierung, das Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung von Weltmärkten für Grundnahrungsmittel auf Basis neuer Transport- und Kommunikationstechnologien begann. Seitdem formierten sich mehrere globale Nahrungsregime und dazwischen gelagerte Übergänge. Für das erste oder UK-zentrierte Nahrungsregime (1870er–1920er Jahre) war der Handel von Getreide und Fleisch von Siedlerkolonien in Nord- und Südamerika und Australien in die europäischen Metropolen charakteristisch. Das zweite oder US-zentrierte Nahrungsregime (1940er–1970er Jahre) zeichnete sich durch den Handel von Agrarüberschüssen aus den USA nach Westeuropa und Japan (Futtermittel) sowie in die ‚Dritte Welt‘ (Getreide) aus. Das dritte oder WTO-zentrierte Nahrungsregime (1990er–2010er Jahre) ist vor allem durch den Handel von Futtermitteln aus den USA und Südamerika nach Europa, Japan und Ostasien sowie von Getreide aus Industrie- in Entwicklungsländer gekennzeichnet. Abschließend werden die Konturen eines künftigen Nahrungsregimes erörtert.

      Wir sind gewohnt, das Früher vom Heute zu unterscheiden: Früher sei vieles oder alles anders gewesen als heute. Oft verbinden wir damit auch Wertungen: Das Früher sei ‚schlechter‘ oder ‚besser‘ gewesen als das Heute. Solche wertenden Unterscheidungen beziehen sich etwa auf die Landwirtschaft: Früher war das bäuerliche Arbeiten und Leben mühselig und ärmlich; heute genießen auch die Landwirte und Landwirtinnen dank des technischen Fortschritts Bequemlichkeit und Wohlstand. Oder umgekehrt: Früher wirtschafteten Bauernfamilien im harmonischen Einklang mit Dorfgemeinschaft und Naturkreisläufen; heute verursachen hoch technisierte Agrarunternehmen Landflucht und Umweltschäden. Auch die Ernährung bildet einen Bezugspunkt wertender Unterscheidungen: Früher verursachten Unwetter, Schädlinge und Kriege regelmäßige Hungersnöte; heute steht den Menschen im Durchschnitt genügend Nahrung zur Verfügung. Oder umgekehrt: Früher versorgten sich die Menschen selbst mit saisonaler und regionaler Nahrung; heute sind die Konsumenten von den gesundheits- und umweltschädigenden Produkten der Lebensmittelindustrie abhängig. Die Wertungen wechseln, eine Grundvorstellung bleibt gleich: Die Geschichte sei eine Zeitreise von einem – teils oder gänzlich anderen – früheren Zustand zum heutigen Zustand.

      In den Sozial- und Kulturwissenschaften begegnen uns derart zielgerichtete („teleologische“) Geschichtsbilder etwa in Gestalt der Modernisierungstheorie. Die Modernisierungstheorie umfasst ein Bündel an Vorstellungen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandels von der „traditionalen“ zur „modernen“ Gesellschaft. Als „traditional“ gilt: agrarisch, manuell, feudalistisch, absolutistisch, gemeinschaftlich, religiös usw. Als „modern“ gilt: industriell, technisch, kapitalistisch, demokratisch, gesellschaftlich, säkularisiert usw. (Wehler 1975). Die Hauptakteure dieses Spiels der Gegensätze bilden der ‚Westen‘, repräsentiert durch die Länder (Nordwest-)Europas und ihre amerikanischen und australischen Ableger, als Vorreiter auf dem Weg zur Moderne und der ‚Rest der Welt‘ als Nachzügler. Die damit verbundene Vorstellung von Entwicklung orientiert sich am im ‚Westen‘ erreichten Stand als Zielmarke für den ‚Rest der Welt‘. Dieses ethnozentrische Geschichtsbild erlebte seine Blüte zwischen dem in den 1950er Jahren abhebenden Wirtschaftsboom und der Weltwirtschaftskrise der 1970er Jahre. Damit war die Vorstellung der Überlegenheit der kapitalistischen Industrieländer (‚Erste Welt‘) gegenüber sozialistischen Industrieländern (‚Zweite Welt‘) und Entwicklungsländern (‚Dritte Welt‘) (→ Globaler Süden) verbunden (Raphael und Doering-Manteuffel 2008).

      Dieses Kapitel sucht den von der Modernisierungstheorie