Ernst Langthaler

Agro-Food Studies


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2.2). Das institutionelle Regelwerk dieser Handelsströme umfasste die Freihandelspolitik (z. B. Aufhebung der britischen Getreidezölle 1846) und den Goldstandard mit dem Britischen Pfund als internationaler Leitwährung.

      Vor dem Ersten Weltkrieg war Russland der bei Weitem größte Getreideexporteur. Danach folgten von europäischen Siedlern kolonisierte Gebiete in Übersee: Argentinien, USA, Kanada sowie Australien und Neuseeland. Zudem waren auch Rumänien und Indien wichtige Exportländer. Die wichtigsten Importeure von Getreide waren europäische (Kolonial-)Staaten: Allen voran lagen Großbritannien und Irland, gefolgt vom Deutschen Reich, Belgien und den Niederlanden, Frankreich und Italien. Die Importländer unterschieden sich nach dem Anteil der Getreideeinfuhren am Inlandsverbrauch. Auf der einen Seite standen Kolonialmächte, die ihren Getreideverbrauch zu fast zwei Dritteln über Importe deckten: Großbritannien und Irland sowie Belgien und die Niederlande. Auf der anderen Seite lagen die fast autarken Länder, darunter die kontinentalen Vielvölkerreiche Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Die übrigen Staaten verzeichneten Importanteile zwischen rund einem Zehntel (Frankreich) und einem Viertel (Dänemark). Dass Industrialisierungsgrad und Importabhängigkeit bei Nahrungsmitteln zusammenhängen, legen die Beispiele des hoch industrialisierten Großbritanniens und des (vor allem im Osten des Reiches) noch stark agrarisch geprägten Österreich-Ungarns nahe. Gegen diesen Zusammenhang spricht das hoch industrialisierte, aber vergleichsweise importunabhängige Deutsche Reich, das eine protektionistische Handelspolitik mittel Getreideeinfuhrzöllen verfolgte (Langthaler 2010).

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      Grundzüge des Weltgetreidehandels 1909/13 (eigene Darstellung nach Langthaler 2010, 145)

      Die britischen Getreide- und Fleischeinfuhren dienten vor allem den Interessen von Nationalstaat und Industriekapital: Billige Grundnahrungsmittel für die wachsende Industriearbeiterschaft in der britischen „Werkstatt der Welt“ vermochten deren Protestpotenzial einzudämmen und Lohnkosten zu verringern (Koning 1994, 11 ff.; Tanner 1999). In den stetig sinkenden Brotpreisen Londons wirkten mehrere Glieder der transkontinentalen Wertschöpfungskette zusammen: billige Land- und Arbeitskraftressourcen – nährstoffreiche Graslandflächen und verzichtgewohnte Siedlerfamilien – an den überseeischen und zentralasiatischen Pionierfronten; billiger Ferntransport mittels Dampftechnologie zu Lande und zu Wasser; billige Massengüter der aufblühenden Lebensmittelindustrie; schließlich billige Arbeitskräfte, einschließlich Frauen und Kinder, in den nordwesteuropäischen Industrierevieren. Kurz, die interessengeleitete „Vermarktlichung“ entlang der Nahrungskette gliederte Gesellschaft und Umwelt in verschiedenen Weltregionen in das UK-zentrierte Nahrungsregime ein (McMichael 2013, 26 ff.).

      Das UK-zentrierte Nahrungsregime beschleunigte nicht nur den Niedergang der zuvor hoch entwickelten Landwirtschaft auf den Britischen Inseln, sondern auch das Vorrücken der intensiven Getreidebau-Rindermast-Mischwirtschaft nach europäischem Maßstab in Übersee, das der indigenen Bevölkerung und deren extensiver Landnutzung (z. B. Wanderfeldbau) die Lebensgrundlage entzog (Barbier 2011, 368 ff.). Zur Rechtfertigung dieser Widersprüche diente die westliche Ideologie der „Zivilisation“, die europäische Herrschafts-, Besitz- und Deutungsansprüche über die politischen, ökonomischen und kulturellen Rechte der „Primitiven“ erhob – und damit die Ungleichheit zwischen den Weltregionen zementierte (Davis 2002).

      In die Krise geriet das UK-zentrierte Nahrungsregime jedoch weniger durch innere als durch äußere Widersprüche: Unter dem Preisdruck der „Getreideinvasion“ (O’Rourke 1997) aus Übersee suchten kontinentaleuropäische Staaten, beginnend mit Deutschland und Frankreich, ihre nationalen Agrarsektoren mittels Einfuhrzöllen zu schützen. Dies galt für bäuerlich geprägte Formen der Landwirtschaft im Westen wie für die Gutsbetriebe im Osten Europas. Hinter der Zollschutzpolitik standen meist Koalitionen aus Großgrundbesitz, Bauernverbänden und Industriekapital, die wirtschaftliche und politische Interessen – etwa die Sorge vor dem revolutionären Potenzial der Industriearbeiterschaft – verbanden. Hinzu kam die Sorge vieler in nationalistische Konflikte verstrickter Staaten um die → Ernährungssicherheit im Kriegsfall. Diese protektionistische Bewegung legte im Gefolge des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre das Freihandelsregime unter britischer Führung letztlich lahm (siehe Abb. 2.1; Aldenhoff-Hübinger 2002).

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      Abb. 2.1: Übersicht zum UK-zentrierten Nahrungsregime (eigene Darstellung)

      Das US-zentrierte Nahrungsregime, das sich während der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs formierte, verlagerte die globalen Handelsbeziehungen. Nicht mehr Peripherien versorgten mit ihren Überschüssen das Zentrum, wie im UK-zentrierten Nahrungsregime außereuropäische Siedlerkolonien die britische Metropole. Stattdessen exportierten die USA als neues Zentrum ihre Überschüsse in westlich orientierte Industrie- und Entwicklungsländer als neue (Semi-)Peripherien (McMichael 2013, 32 ff.). Die US-Regierung suchte die ökonomisch-ökologische Doppelkrise der 1930er Jahre – den Rentabilitätseinbruch während der Weltwirtschaftskrise gepaart mit der katastrophalen Winderosion auf den Ackerflächen des Mittleren Westens (Worster 1982; Cunfer 2005) – durch staatliche Preisstützungen und Produktionsbeschränkungen zu bewältigen. Der Ausbau der Preisstützungen und der Wegfall der Produktionsbeschränkungen trieben den US-amerikanischen Agrarsektor während des Krieges zu Höchstleistungen; dabei galt es, zunächst die übrigen Alliierten, dann auch die US-Armee im Mehrfrontenkrieg zu versorgen (Winders 2012, 51 ff.). Die frei werdenden Rohstoffe – etwa die im Krieg für Sprengstoffe reservierten, nun als Mineraldünger verfügbaren Stickstoffverbindungen – regten den Übergang von einem Sonnenenergie und Fotosynthese nutzenden zu einem Fossilenergie verbrauchenden Agrarsystem an (siehe Kapitel 4). Das agroindustrielle Modell wurde nicht nur auf Europa und Japan, sondern im Zuge der → „Grünen Revolution“ auch auf Lateinamerika, Asien und – mit weitaus geringerem Erfolg – Afrika übertragen. Mittels intensiven Einsatzes arbeits- und landsparender Technologien (siehe Box 2.3), etwa von Hochleistungssaatgut, Mineraldünger und Pestiziden, wurde die Arbeits- und Landproduktivität nach oben katapultiert (Anderson 2009; Djurfeldt et al. 2005; Cullather 2010).

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      Pfade der Agrarentwicklung ausgewählter Staaten 1880–1980 (eigene Darstellung nach Langthaler 2010, 148)

      Wenn auch die Wege der Agrarentwicklung von Land zu Land unterschiedlich ausgeprägt waren – die Richtungen ähnelten einander: kapitalintensives Wachstum mittels wissenschaftlich-technischer Neuerungen. Technische Innovationen können in unterschiedlicher Weise Agrarwachstum auslösen: über die Steigerung der Arbeitsproduktivität mittels arbeitssparender Technologie (z. B. Mähdrescher) einerseits, der Flächenproduktivität mittels landsparender Technologie (z. B. Mineraldünger) andererseits. Beide Wege der Technisierung erfordern eine Reihe institutioneller Innovationen, die den Einsatz der jeweiligen Technologie regeln (z. B. Forschungs- und Bildungseinrichtungen). Auf welche Weise technische und institutionelle Innovationen in Gang gesetzt („induziert“) wurden, lässt sich am internationalen Vergleich der Agrarentwicklung 1880 bis 1980 ablesen. Auffällig ist zunächst, dass die nationalen Wachstumspfade auf unterschiedlichen Niveaus verliefen. Dafür waren die unterschiedlichen pro Arbeitskraft verfügbaren Flächen verantwortlich – mit dem Spitzenreiter USA. In den europäischen Staaten lagen die entsprechenden Werte erheblich niedriger. Japan wies die geringsten Pro-Kopf-Flächen auf. Zudem fällt auf, dass die Wachstumspfade zwar in etwa derselben Richtung – von links unten