Ernst Langthaler

Agro-Food Studies


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beantworten: In Weltregionen mit geringer Arbeitskraftdichte und großer Fläche pro Landarbeitskraft wie den USA wurde der im Vergleich zu Boden teure Produktionsfaktor Arbeit primär durch mechanische, die Arbeitsproduktivität steigernde Technologie ersetzt. In Weltregionen mit hoher Arbeitskraftdichte mit kleiner Fläche pro Landarbeitskraft wie Japan und, mit einigem Abstand, Europa wurde der im Vergleich zu Arbeit teure Produktionsfaktor Boden in höherem Maß durch landsparende, die Bodenproduktivität steigernde Technologie ersetzt. Die Industrialisierung induzierte im Agrarsektor – je nach Ausstattung mit Arbeit und Boden – den Ersatz des jeweils knapperen, folglich teureren Produktionsfaktors durch Kapital, indem sie ein billiges Angebot an arbeits- und landsparenden Technologien sowie die Nachfrage nach Nahrungsmitteln steigerte. Umgekehrt erhöhte das landwirtschaftliche Produktivitätswachstum die Nachfrage nach industriellen Inputs sowie – im Fall von arbeitssparender Technologie – das Angebot an Industriearbeitskräften. Kurz, Agrar- und Industrieentwicklung trieben einander wechselseitig an (Hayami und Ruttan 1985).

      In der Nachkriegszeit suchten die USA ihre Agrarüberschüsse nicht abzubauen, sondern – in Vorwegnahme von Welternährungsplänen der Vereinten Nationen – in hungergefährdeten, der westlichen Hemisphäre zugerechneten Staaten mit kriegerischen oder kolonialen Erblasten abzusetzen. Nahrung diente angesichts von Entkolonialisierung und „Kaltem Krieg“ als Waffe zur Eindämmung von Welthunger und Weltkommunismus. Die ideologische Rechtfertigung dieser doppelten Eindämmungsstrategie lieferte die produktivistische Vision, jeglichen Mehrbedarf durch ein Mehrangebot decken zu können. Das entsprechende Regelwerk umfasste einerseits das General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) von 1947, das entsprechend der im „Kalten Krieg“ aufgewerteten Ernährungssicherheit den Agrarbereich aus der Handelsliberalisierung ausklammerte und protektionistische Maßnahmen gestattete. Andererseits sicherte das Abkommen von Bretton Woods von 1944 stabile Wechselkurse mit dem US-Dollar als Ankerwährung.

      Zunächst forcierte das European Recovery Program („Marshallplan“) von 1947 den Wiederaufbau der westeuropäischen Landwirtschaft mittels Technologie- und Wissenstransfers nach produktivistischem Muster. Nahrungshilfen wurden dabei nur zum Ausgleich der kriegsbedingten Einbrüche gewährt. In dem Maß, in dem Westeuropa den Grad seiner Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln steigerte, verengte sich der Absatzmarkt für die US-amerikanischen Agrarüberschüsse. Umgekehrte Akzente setzte das Food for Peace Program von 1954, das die US-Regierung zur Entwicklungshilfe für bedürftige Länder – einschließlich Japans, das bereits seit 1946 US-Nahrungshilfe erhalten hatte – ermächtigte. Damit erschlossen die USA auf Betreiben heimischer Farmerverbände staatssubventionierte Absatzmärkte für die Agrarüberschüsse – vor allem für Weizen, aber auch für Baumwolle, Ölfrüchte und Milchprodukte (Winders 2012, 146 ff.).

      Dieses Hilfsprogramm konzentrierte sich auf Nahrungslieferungen an hungergefährdete und militärstrategisch wichtige Entwicklungsländer; doch ein breit angelegter (Wieder-)Aufbau der Landwirtschaft in diesen Staaten war nicht beabsichtigt. Auch die „Grüne Revolution“ – als Gegengift zur ‚roten‘, kommunistischen Revolution – kam beim Transfer westlicher Hochleistungstechnologie und der damit verbundenen Abhängigkeit von Expertenwissen und Bankkrediten vor allem den herrschenden und kapitalistisch orientierten Klassen im jeweiligen Land zugute (Cullather 2010). Dies erzeugte neokoloniale Abhängigkeiten: Einerseits forcierten Nahrungshilfen zu billigen Preisen den Wandel der bäuerlichen → Landwirtschaftsstile von der Subsistenz- und Binnenmarktproduktion zur Weltmarktproduktion. Andererseits trieben sie den Wandel der → Ernährungsstile von regional angepassten zu am westlichen Standard orientierten voran. Nutznießer beider Entwicklungen waren transnational operierende Unternehmen mit Sitz in Nordamerika oder Westeuropa, die den Fernhandel mit tropischen Rohprodukten und die industrielle Lebensmittelverarbeitung kontrollierten (McMichael 2013, 32 ff.).

      Während die USA überschüssiges Brotgetreide vor allem als Nahrungsmittelhilfen in die ‚Dritte Welt‘ lenkten, exportierten sie die im Rahmen des GATT zollbefreiten Mais- und Sojabohnenüberschüsse nach Westeuropa und Japan als Futtermittel für den wachsenden Viehmastkomplex (siehe Box 2.4). Das Angebot an industriell hergestellten Fleisch- und Wurstwaren stieß auf die Nachfrage einer kaufkräftigen und am American way of life orientierten Konsumgesellschaft (Levenstein 2003; Hirschfelder 2005, 234 ff.; Langthaler 2016a, 2016b). Was in den 1950er Jahren als nachholende „Fresswelle“ einsetzte, mündete in den Folgejahrzehnten im grundlegenden Wandel der westlichen Ernährungsstile von getreide- und kartoffel- zu fleisch- und zuckerreicher Kost. Der Speisezettel der westlichen Wohlstandsgesellschaft verband sich mit rassen-, klassen- und geschlechterspezifischen Deutungen; er signalisierte ‚weiße‘, ‚mittelständische‘ und ‚männliche‘ Kost als Ausweis gesellschaftlichen Aufstiegs (siehe Kapitel 8). Schauplätze dieses standardisierten Lebensstils bildeten neben dem Familientisch in den eigenen vier Wänden neue Formen des Einzelhandels (z. B. Supermärkte) und des Essens außer Haus (z. B. → fast food; Schlosser 2002; Ritzer 2006). Der Landwirtschaft vor- und nachgelagerte Industrien an den Flaschenhälsen der Wertschöpfungskette steigerten ihre Profite, jedoch unter Ausklammerung erheblicher sozialer und ökologischer Kosten (Weir 2014; Weis 2013; Smil 2013; Langthaler 2016a, 2016b).

      Das US-zentrierte Regime war durch hohes Wachstum sowohl von Agrarproduktion als auch von Handelsflüssen gekennzeichnet. Dieses Wachstum hielt bis etwa 1980 an; dann begannen insbesondere die globalen Exporte und Importe zu stagnieren. Zwischen 1950 und 1980 verdoppelte sich die globale Getreideproduktion von 0,5 auf 1,1 Gigatonnen/Jahr, die Exporte stiegen um einen Faktor 6 auf 200 Mio. Tonnen/Jahr, wobei sich hier der Schwerpunkt von Brot- auf Futtergetreide verschob. In dieser Phase dominierten die USA den globalen Agrarhandel. Die US-Getreideexporte stiegen auf über 100 Mio. Tonnen; damit kamen in den 1970er Jahren knapp 50 % der globalen Getreideexporte und 65 % der Ölsaatenexporte aus den USA. In der UdSSR konnte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg die Getreideproduktion mit dem schnell steigenden Verbrauch, vor allem durch die expandierende Fleischproduktion, nicht Schritt halten und erlangte in diesem Regime keine Bedeutung mehr. Die UdSSR wurde in der Folge in den 1970er Jahren sogar zu einem großen Getreideimporteur. Die nordamerikanischen Exporte gingen bis in die 1950er Jahre noch überwiegend nach Europa. Erst danach entwickelte sich Asien zur wichtigsten Importregion, trotz der gleichzeitigen Steigerung der Produktion als Folge der „Grünen Revolution“. Ab den 1970er Jahren nahm auch die Bedeutung von Afrika als Importregion zu, während die Exporte der USA nach Europa zurückgingen. In diesem Regime nahm vor allem der Handel mit Sojabohnen, insbesondere als Eiweißfuttermittel in der industriellen Tierproduktion, und mit Fleisch stark zu. Diese Agrarprodukte wurden neben Getreide zu mengenmäßig bedeutenden Handelsgütern. In den zwei Jahrzehnten von 1961 bis 1980 stiegen der globale Handel von Ölsaaten von 15 auf 60 Mio. Tonnen und jener von Fleisch von 3,5 auf 9,5 Mio. Tonnen an. Während die Handelsrichtung bei den Ölsaaten vor allem von Nordamerika und ab 1975 zunehmend auch von Südamerika nach Europa ging, kamen die Fleischexporte vor allem aus Australien und Neuseeland (Ozeanien) sowie Südamerika. Erst in den 1980er Jahren entwickelte sich dann auch Europa zu einer Nettoexportregion von Fleisch (Krausmann und Langthaler 2016).

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      Anmerkung: Das Diagramm zeigt die physische Handelsbilanz (Importe minus Exporte). Positive Werte bedeuten Nettoimport, negative Werte Nettoexport.

      In der Welternährungskrise 1972 bis 1975 ließen massive Getreideverkäufe der USA an die Sowjetunion, großflächige Missernten und der „Ölschock“ von 1973 die Agrarpreise hochschnellen (siehe Kapitel 7; Gerlach 2005). Dabei offenbarten sich die Widersprüche des US-zentrierten Nahrungsregimes an mehreren Punkten: Erstens belasteten die staatssubventionierten Agrarüberschüsse zunehmend die öffentlichen Haushalte, so etwa der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit ihrer auf