Bernhard Kempen

Völkerrecht


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      Heute gilt völkerrechtlich auf der Ge- und Verbotsebene das sog. „universelle“ → Gewaltverbot gem. Art. 2 Ziff. 4 der Charta der → Vereinten Nationen (UN-Charta, Sart. II, Nr. 1), das militärische Gewaltanwendung oder ihre Androhung in den zwischenstaatlichen Beziehungen verbietet. Zur Strafbarkeit eines Verstoßes gegen das universelle Gewaltverbot äußert sich die UN-Charta nicht. Sie unterscheidet begrifflich allerdings zwischen einem „Aggressionsakt“ (act of aggression), der in Art. 39 UN-Ch. einer Bedrohung (threat to the peace) oder einem Bruch des Friedens (breach of the peace) gleichgestellt wird, und ermöglicht, dass der UN-Sicherheitsrat Kapitel VII-Maßnahmen nach Art. 41 ff. UN-Ch. ergreift (→ System kollektiver Sicherheit), und dem grundsätzlich unabhängig vom Sicherheitsrat bestehenden naturgegebenen Recht der Staaten zur individuellen und kollektiven → Selbstverteidigung, das in Art. 51 UN-Ch. anerkannt, aber nur durch einen „bewaffneten Angriff“ (armed attack) ausgelöst wird.

      Nach langen Diskussionen und Verhandlungen bezüglich einer Definition des Begriffs „bewaffneter Angriff“ konnte sich die → Generalversammlung der Vereinten Nationen am 14.12.1974 in ihrer Aggressions-Resolution (Sart. II, Nr. 5) lediglich auf eine Bestimmung des Begriffs der „Angriffshandlung“ (act of aggression), nicht jedoch auf eine Definition des Begriffs „bewaffneter Angriff“ (armed attack) einigen, wobei diese Resolution der Generalversammlung ohnehin nur eine Empfehlung, aber kein bindendes Recht und außerdem ein politisches Statement darstellt, das den Sicherheitsrat bei seinen Entscheidungen nach Kapitel VII der UN-Charta unterstützen sollte, aber nicht als materielle strafrechtliche Regelung konzipiert war oder dienen sollte. Die Begriffe „bewaffneter Angriff“ einerseits sowie „Angriffshandlung“ andererseits werden in der Charta in unterschiedlichen Zusammenhängen benutzt, werden nicht als identisch angesehen und entsprechen sich mithin inhaltlich definitionsgemäß nicht. So gelten bei einem „bewaffneten Angriff“ strengere Voraussetzungen als bei einer „Angriffshandlung“. Demnach ist eine verbotene Gewaltanwendung eines Staates, die noch unterhalb der Schwelle des bewaffneten Angriffs im Sinne des Art. 51 UN-Ch. bleibt, eine solche, die den bedrohten Staat noch nicht ermächtigt, von seinem Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung Gebrauch zu machen, gleichwohl aber nach Art. 8 bis ein Aggressionsverbrechen darstellen kann. Inkonsequent ist auch der Inhalt des Art. 3 der GA-Resolution 3314: Die Tatbestände des Art. 3 lit. a – d können tatsächlich als Beispiele für eine „armed attack“ angesehen werden. Demgegenüber stellten die Tatbestände des Art. 3 lit. e – g eher Beispiele für einen „act of aggression“ dar.

      Da sich die von den Vereinten Nationen einberufene Staatenkonferenz, die vom 16.6. – 17.7.1998 in Rom tagte und am 17.7.1998 das Statut verabschiedete, noch nicht auf die Formulierung des Tatbestandes der Aggression einigen konnte, wurde in Art. 5 Abs. 2 bestimmt, dass der Gerichtshof die Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression ausübt, sobald in Übereinstimmung mit den Artikeln 121 und 123 – also auf Änderungsvorschlag eines Vertragsstaates nach Art. 121 Abs. 1 oder durch die Versammlung der Vertragsstaaten (Art. 112 ff.) auf einer Überprüfungskonferenz frühestens sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statuts (1.7.2002) mit Zweidrittel-Mehrheit (Art. 121 Abs. 3) – eine Bestimmung angenommen worden ist, die das Verbrechen definiert und die Bedingungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit im Hinblick auf dieses Verbrechen festlegt.

      Auf der ersten Überprüfungskonferenz des Römischen Statuts in Kampala, Uganda, vom 31.5. – 11.6.2010 konnte die Versammlung der Vertragsstaaten erst in allerletzter Minute (tatsächlich war bereits der 12.6.2010 angebrochen) einen Konsens zur Formulierung des Tatbestandes der Aggression (künftig Art. 8 bis) und seiner Verbrechenselemente (künftig Art. 15 bis und ter) erzielen. Im Streit stand nicht so sehr die Aggressionsdefinition selbst, sondern die Frage, ob das Tätigwerden des IStGH vom Vorliegen der Feststellung eines Aggressionsaktes durch den UN-Sicherheitsrat (sog. Sicherheitsratsfilter) abhängen sollte oder nicht. Die USA, Rußland und China wollten als Nicht-Vertragsstaaten zunächst jede Einigung zum Tatbestand der Aggression verhindern, später schwenkten sie auf die von Frankreich und Großbritannien favorisierte Sicherheitsratsfilter-Lösung um. Afrikanische und lateinamerikanische Staaten standen dieser Option ablehnend gegenüber, Europa konnte wegen der britischen und französischen Haltung keine einheitliche Linie finden. Christian Wenaweser, Diplomat aus Liechtenstein, der schon in der jahrelang vor Kampala tätigen Vorbereitungsgruppe erreicht hatte, dass die Definition des Aggressionstatbestandes nicht mehr streitig war, hat mit seinem taktischen Geschick in den frühen Morgenstunden des 12.6.2010 das nicht mehr für möglich gehaltene, völkerrechtspolitisch sicher sehr wichtige Ziel erreicht, dass die nunmehr vorliegende Vertragsänderung des Römischen Statuts im Consensus-Verfahren angenommen wurde. Diese neuen Regelungen treten aber frühestens 2017 in Kraft.

      Nach dem in Kampala im Consensus-Verfahren einstimmig beschlossenen künftigen Art. 8 bis ist das Verbrechen der Aggression von einer Doppelnatur gekennzeichnet, die auf einer Makroebene den völkerrechtswidrigen Akt einer kollektiven, staatlichen Aggression („act of aggression“ – Abs. 2) und auf einer Mikroebene das individuelle Aggressionsverbrechen („crime of aggression“ – Abs. 1) umfasst. Das Vorliegen einer gegen das Völkerrecht verstoßenden staatlichen Aggressionshandlung hat demnach nicht automatisch die individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit der an einer solchen Handlung beteiligten Personen zur Folge; diese ist vielmehr gesondert festzustellen, was man bei dem Verfahren vor dem IMG in Nürnberg noch nicht erkannt hatte. Ferner führt Art. 8 bis Abs. 1 zusätzlich eine sog. Schwellenklausel ein, nach der nicht jeder staatliche Aggressionsakt, sondern nur solche einer bestimmten Qualität zur Strafbarkeit eines Aggressionsaktes führen (ebenfalls Abs. 1).

      Der Aggressionsakt betrifft die staatliche Verantwortlichkeit nach allgemeinem Völkerrecht als notwendige rechtliche Vorbedingung der individuellen Strafbarkeit; damit ist der in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger gewordene Bereich nicht-staatlicher Gewaltanwendung vom Anwendungsbereich des Aggressionsverbrechens nicht umfasst. In Art. 8 bis Abs. 2 werden Art. 1 Satz 1 der Aggressionsdefinition der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 14.12.1974 und die Aggressionsbeispiele aus Art. 3 dieser Resolution zusammengezogen und wortgleich wiedergegeben. Danach ist Aggression die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist, so dass die anerkannten Fälle rechtmäßiger Gewaltanwendung (Art. 51 UN-Ch. und Kapitel VII-Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrats) von vorneherein aus der Aggressionsdefinition herausfallen. Da sich die gesamte Resolution 3314 der Generalversammlung mit der Frage der Rechtfertigung bewaffneter Gewalt nicht beschäftigt, bleibt auch diese zentrale Streitfrage aufgrund der wortgleichen Übernahme in Art. 8 bis weiterhin offen. Ferner beschäftigt sich die Resolution 3314 nur mit der Makroebene, also der kollektiven staatlichen Aggressionshandlung; deshalb enthält sie ebenso wenig wie ihre wortgleiche Übernahme in Art. 8 bis Abs. 2 Ausführungen zu dem Unterschied zwischen der bloßen völkerrechtswidrigen Handlung und den Umständen, die eine solche Handlung zu einem Verbrechen mit individueller strafrechtlicher Verantwortlichkeit machen. Diese werden im IStGH-Statut nunmehr durch die in der Schwellenklausel formulierte Mindestschwere der Tathandlung ausgedrückt.