Bernhard Kempen

Völkerrecht


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wenn auch teilweise unter Vorbehalten oder verbunden mit bestimmten Erklärungen, die insbesondere Restitutionsfragen betreffen.

      Zusätzliche Garantien enthält darüber hinaus Protokoll Nr. 4 vom 16.9.1993, so vor allem das Freizügigkeitsrecht (Art. 2), das Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger (Art. 3) und das Verbot der Kollektivausweisung (Art. 4), wobei letzteres aufgrund des ersten Staatenbeschwerdeverfahrens von Georgien gegen Russland besondere Bedeutung erlangt hat; das Verfahren, bei dem es um die Ausweisung georgischer Bürger aus Russland geht, ist seit 2008 vor dem Gerichtshof anhängig. Das Zusatzprotokoll wurde von allen Mitgliedstaaten des Europarats mit Ausnahme der Türkei, des Vereinigten Königreichs, Griechenlands und der Schweiz ratifiziert.

      Obwohl der Text der in der EMRK enthaltenen materiell-rechtlichen Garantien noch keiner Änderung unterzogen wurde, hat sich die Substanz des in Art. 2 enthaltenen Rechts auf Leben grundlegend geändert. In der ursprünglichen Fassung von 1953 war die Todesstrafe auf der Grundlage eines rechtsstaatlichen Urteils noch zugelassen worden. Mit dem 6. Zusatzprotokoll vom 28.4.1983 wurde ein Reformweg gewählt, der es den Mitgliedstaaten ermöglichte, mit der Ratifikation diese Änderung als verbindlich anzunehmen, ohne, wie es bei einer Änderung des Konventionstextes selbst nötig gewesen wäre, das Inkrafttreten von der Ratifikation aller Mitgliedstaaten abhängig zu machen. Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt (April 2013) haben alle Mitgliedstaaten außer Russland das 6. Zusatzprotokoll ratifiziert. Inhaltlich noch weiter geht das 13. Zusatzprotokoll vom 3.5.2002, das das Verbot der Todesstrafe auch auf Kriegszeiten erstreckt. Außer Russland, Polen, Armenien und Aserbaidschan haben es alle Vertragsstaaten der Konvention ratifiziert.

      Im Gegensatz dazu wurde das 12. Zusatzprotokoll, das den Gleichheitssatz allgemein fasst und damit über die in der Konvention garantierten Rechte hinaus auch auf andere Rechtspositionen anwendet, nur von einer Minderheit von 18 Vertragsstaaten ratifiziert und spielt damit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs keine eigenständige Rolle.

      Auch nach der entscheidenden, durch das 11. Zusatzprotokoll herbeigeführten Änderung des Verfahrens, mit der der EGMR als für Individualbeschwerden unmittelbar zuständiges und dauerhaft tätiges Kontrollorgan eingerichtet wurde, gab es eine Vielzahl von weiteren Verfahrensänderungen, die vor allem der Steigerung der Effektivität des Kontrollmechanismus dienen sollten. Besonders wichtig war die Einführung von Einzelrichterentscheidungen bei offensichtlich unzulässigen oder unbegründeten Beschwerden mit dem 14. Zusatzprotokoll.

II. Inhaltliche Schwerpunkte

      Inhaltlich entsprechen die von der EMRK garantierten Rechte den auf universeller Ebene im → Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthaltenen Rechten im Wesentlichen; die Europäische Grundrechte-Charta, die deutlich jünger ist, ist umfassender und ergänzt den Katalog der allgemein als „politisch“ verstandenen Rechte um eine Reihe von sozialen Rechten. Die EMRK zeichnet sich dadurch aus, dass die Bestimmungen knapp gefasst und damit interpretationsoffen sind; sie spiegeln im Wesentlichen die auf der Aufklärung basierende europäische Menschenrechtstradition wider. Anders als speziellere Menschenrechtsverträge, die auf bestimmte schutzbedürftige Personen wie etwa Frauen oder Kinder zugeschnitten sind, versteht sich die EMRK als ein umfassender und thematisch nicht fokussierter Vertrag. Für das Menschenrechtsschutzkonzept des Europarats ist die EMRK das entscheidende Instrument; weitere Verträge wie insbesondere die Europäische Sozialcharta sind als komplementär anzusehen.

      Die EMRK als früher Text des internationalen Menschenrechtsschutzes greift auf die in älteren nationalen Verfassungen enthaltenen Menschenrechtsverbürgungen zurück, dient ihrerseits aber auch wiederum für eine Vielzahl von neueren Verfassungen, insbesondere in den Ländern Mittel- und Osteuropas, als Vorbild (→ Menschenrechtlicher Mindeststandard). Im Vergleich zum Grundgesetz fallen Unterschiede in zweierlei Hinsicht auf: Zum einen sind in der EMRK die Verfahrensgarantien bei Freiheitsentziehungen und Gerichtsverfahren („fair trial“) wesentlich stärker ausdifferenziert (Art. 5 und Art. 6 EMRK). Auch ist eine Besonderheit, dass in Art. 8 nicht nur ein Recht auf Familien-, sondern auch auf Privatleben garantiert wird; letzteres wurde vom EGMR als eine der Regelung des Art. 2 GG vergleichbare Auffangbestimmung für Eingriffe in verschiedene Rechte interpretiert. Zum anderen ist der Schutz von Arbeit und Berufsleben in Art. 12 GG stärker hervorgehoben und findet keine kongruente Entsprechung in der EMRK. Allerdings werden die Unterschiede im Wortlaut durch die jeweilige umfassende Auslegungspraxis einerseits des EGMR, andererseits des Bundesverfassungsgerichts in ihrer Bedeutung relativiert.

      Als besonders schwerwiegende Konventionsverstöße werden Verletzungen von Art. 2 (Recht auf Leben), Art. 3 (Verbot der Folter und unmenschlichen Behandlung) und Art. 4 (Verbot der Zwangsarbeit) angesehen. Auch dem in Art. 5 geschützten Freiheitsrecht kommt eine große Bedeutung zu. Dagegen werden Verletzungen der nachfolgenden Artikel in der Regel nicht als prioritär angesehen, es sei denn, es handelt sich um massenhafte Verstöße und damit um ein systemisches Problem in einem bestimmten Mitgliedstaat.

      Nach Art. 34 EMRK kann sich jede natürliche Person, nichtstaatliche Organisation oder Personengruppe mit Beschwerden über eine Verletzung der in der Konvention enthaltenen Rechte an den EGMR wenden, wenn sie alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft hat. Der in dieser Bestimmung enthaltene Grundsatz der Subsidiarität ist von zentraler Bedeutung für die Rechtsprechung des EGMR, da jedem Staat erst die Gelegenheit gegeben werden muss, bei einem menschenrechtlichen Problem selbst Abhilfe zu schaffen, bevor er sich der internationalen Kontrolle unterziehen muss. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen sind im Einzelnen in der Konvention konkretisiert. Mit Blick auf die Überlastung des Gerichtshofs mit Beschwerden werden sie zunehmend strenger ausgelegt.

      Neben den Individualbeschwerdeverfahren gibt es auch noch Staatenbeschwerdeverfahren (Art. 33 EMRK), bei denen die Vertragsstaaten vor dem Gerichtshof ein konventionswidriges Verhalten anderer Vertragsstaaten rügen können.

III. Auslegungsmethoden

      Die Interpretation der Konvention durch den Gerichtshof folgt grundsätzlich dem Ziel, einen möglichst umfassenden und effektiven Menschenrechtsschutz zu gewährleisten. Daher werden die von den Staaten abgegebenen Vorbehalte und Erklärungen sehr restriktiv ausgelegt. Im Zweifel wird eine territoriale, zeitliche oder inhaltliche Beschränkung des Schutzumfangs nicht anerkannt und der Staat als vollumfänglich an die Bestimmungen der Konvention gebunden angesehen (ständige Rechtsprechung seit Belilos v. Schweiz).

      Bereits sehr früh in der Rechtsprechung hat der EGMR anerkannt, dass – den allgemeinen Interpretationsregeln im Völkerrecht entsprechend (vgl. Art. 31, 32 WVRK) – bei der Auslegung der Konvention das historisch Gewollte nicht im Vordergrund stehen kann, sondern vielmehr eine Auslegung mit Blick auf die sich wandelnden gesellschaftlichen Anschauungen erforderlich ist, da die Konvention andernfalls nicht Schrittmacher im Bereich der Menschenrechte wäre, sondern Gefahr liefe, tradierte Restriktionen zu konservieren. Die Auslegung der EMRK als lebendiges Instrument („living instrument“) ist in allen Bereichen der Konvention prägend. Besonders deutlich ist dies etwa bei der Auslegung des Diskriminierungsverbots,