Bernhard Kempen

Europarecht


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zur Schaffung eines europäischen Strafrechts: eine Untersuchung am Beispiel des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, 2009; S. Weber, Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und parlamentarische Demokratie, EuR 43 (2008), 88; F. Zimmermann, Strafgewaltkonflikte in der Europäischen Union. Ein Regelungsvorschlag zur Wahrung materieller und prozessualer strafrechtlicher Garantien sowie staatlicher Strafinteressen, 2014.

      EEuropastrafrecht (Elisabeth Rossa) › I. Begrifflichkeit

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      Der Begriff Europastrafrecht mag auf den ersten Blick verwirren. So könnte man annehmen, dass auf europäischer Ebene eine den nationalen Strafgesetzbüchern vergleichbare umfassende Kodifikation verschiedener Straftatbestände existiert. Eine Festschreibung europäischer Strafgewalt wurde indes bislang (noch) nicht unternommen. Vielmehr umfasst das Europastrafrecht diejenigen Normen, welche die EU aufgrund der ihr in den Verträgen zugestandenen Kompetenzen im Bereich des Straf- und Strafverfahrensrechts erlassen hat. Wie bereits aus den Regelungen zur → Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (JZS) deutlich wird, beziehen sich die Kompetenzen der EU vorrangig auf die Harmonisierung der nationalen Strafrechtsordnungen und die Förderung einer sich immer weiter vertiefenden Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Umsetzung und Vollstreckung strafrechtlicher Normen. Damit zählen nicht nur die Kompetenznormen des AEU-Vertrages (Rn. 763 ff.), sondern auch das auf dieser Grundlage erlassene → Sekundärrecht (Rn. 766 ff.) zum Europastrafrecht. Darüber hinaus sind auch verschiedene völkerrechtliche Verträge, die Auswirkungen auf die EU zeitigen, unter den Begriff des Europastrafrechts zu fassen (Rn. 769 ff.).

      EEuropastrafrecht (Elisabeth Rossa) › II. Historische Entwicklung

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      Die historische Entwicklung des Europastrafrechts hängt eng mit der Forcierung der JZS und den in diesem Rahmen ergriffenen Maßnahmen zusammen. Die mit dem Vertrag von Maastricht begonnene und mit dem Vertrag von Lissabon bislang erreichte Form der europäischen Integration (→ Europäische Union: Geschichte) erfordert nicht nur eine verstärkte Zusammenarbeit in Wirtschaft und Politik, sondern ebenso im strafrechtlichen Bereich. Das Erfordernis eines einheitlichen → Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) und damit auch möglichst harmonisierter Straf- und Strafverfahrensnormen wurde insbesondere mit dem → Schengener Abkommen und der damit verbundenen innereuropäischen Grenzöffnung relevant. Verblieben die strafrechtlichen Regelungsbereiche zunächst allerdings noch vollständig in nationaler Kompetenz, wurde die Justiz- und Innenpolitik der EU mit dem Vertrag von Lissabon – zumindest in Teilen – supranational ausgestaltet. Damit wurde der EU nunmehr u.a. ermöglicht, Vorschriften zur leichteren gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen der Strafgerichte anderer Mitgliedstaaten zu erlassen. Die Kompetenz zur Rechtsangleichung nationalen Strafrechts steht allerdings unter dem Vorbehalt der Wahrung grundlegender Aspekte der jeweiligen nationalen Strafrechtsordnung, um die Rechtsidentität und Souveränität der Mitgliedstaaten in den sensiblen Bereichen des Strafrechts zu wahren. Die Bedeutung eines solchen Vorbehalts ist gerade i.R.d. Strafrechts nicht zu vernachlässigen, da zwischen den europäischen Mitgliedstaaten nicht nur Unterschiede in der grundsätzlichen Höhe von zu verhängenden Strafen bestehen, sondern bspw. auch die Mitwirkungsrechte der Opfer im Verfahren sowie die Vorschriften zu Haftbedingungen teils stark voneinander abweichen.

      EEuropastrafrecht (Elisabeth Rossa) › III. Primärrecht

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      Weder der EU-Vertrag noch der AEU-Vertrag enthalten eine grundsätzliche und umfassende primärrechtliche Kompetenz zur Setzung von Strafnormen, die in den Mitgliedstaaten unmittelbare Anwendung finden und damit Durchgriffswirkung entfalten. Jedoch beinhalten die Verträge einzelne Bestimmungen, die eine supranational zu verstehende Kompetenz der EU für Teilbereiche des Strafrechts vorsehen und von der die EU mittels → Verordnung Gebrauch machen könnte. Eine solche Ermächtigung der EU wird bspw. in Art. 325 Abs. 4 AEUV gesehen. Hiernach sind das → Europäische Parlament und der → Rat (Ministerrat) dazu ermächtigt, gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (→ Rechtsetzungsverfahren) die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien zu ergreifen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten. Darüber hinaus wird die EU über Art. 33 AEUV dazu ermächtigt, Maßnahmen zum Ausbau der Zusammenarbeit im Zollwesen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und der → Europäischen Kommission zu treffen. Wie auch bei Art. 325 AEUV enthielt die vorhergehende Fassung der Normen im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft jeweils einen Strafrechtsvorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten, der mit dem Vertrag von Lissabon nunmehr entfallen ist. So kann eine Zusammenarbeit der Zollbehörden auch i.R.d. Strafrechts verstärkt werden, während in diesem Zusammenhang allerdings auch Art. 87 AEUV zu berücksichtigen bleibt, der für eine unionsweite Verbesserung der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbehörden die vorrangige Kompetenz enthält.

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      Neben dem Zollwesen in Art. 33 AEUV wird die Verzahnung der Vorschriften zum RFSR mit dem Europastrafrecht auch in zahlreichen weiteren Bereichen der europäischen Justiz- und Innenpolitik deutlich. So bestimmt sich dessen Umfang zu einem Großteil auch aus der unionsrechtlichen Kompetenz zur Rechtsangleichung. Diese Befugnis findet sich bspw. in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV, in welchem eine Beschränkung der Ermächtigung auf die dort genannten Bereiche schwerer Kriminalität vorgenommen wird. Eine Normierung von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität kann die EU nach Art. 83 AEUV durch Erlass einer → Richtlinie vornehmen. In Umsetzung dieser und anderer Richtlinien, die gerade ein europaweit einheitliches Rechtsregime zum Ziel haben, kommt u.a. der Grundsatz der unionsrechtskonformen bzw. richtlinienkonformen Auslegung zum Tragen, der eine Berücksichtigung des Unionsrechts bei Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts fordert (→ Auslegung des nationalen Rechts). Dadurch kann nicht nur eine gleichförmige Rechtsanwendung, sondern auch der Schutz von Unionsrechtsgütern erreicht werden, die ohne unionsrechtskonforme Auslegung keinem Strafrechtsschutz unterfallen würden.

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      Während Art. 83 AEUV die Angleichung des materiellen Strafrechts ermöglichen soll, gibt Art. 82 Abs. 2 AEUV dem Europäischen Parlament