Bernhard Kempen

Europarecht


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im Lichte des Vertrags über eine Verfassung für Europa, 2008; W.-G. Schärf, Europäisches Atomrecht, 2. Aufl. 2012; W. Schroeder, Der Euratom-Vertrag, JA 1995, 728; K. Schwabe, Jean Monnet, 2016.

      EEuropäische Atomgemeinschaft (EAG) (Ulrich Vosgerau) › I. Begriff

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      Die Europäische Atomgemeinschaft wurde am 25.3.1957 mit Wirkung zum 1.1.1958 durch die Römischen Verträge (→ Europäische Union: Geschichte) durch die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, die Benelux-Staaten und Italien begründet. Es handelt sich bei ihr um eine eigenständige supranationale Organisation (→ Supranationalität; → Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl [EGKS]), die heute eigenständig neben der EU fortbesteht, sich mit dieser jedoch die Organe teilt. Sie bildet daher (nach dem Auslaufen der Westeuropäischen Union [WEU], eines militärischen Beistandspakts, im Jahre 2011) gegenwärtig die letzte Europäische Gemeinschaft neben der EU, mit deren Strukturen sie jedoch institutionell vollkommen verklammert bleibt. Die Gründe für die Fortsetzung dieser formalrechtlichen Eigenständigkeit einer Europäischen Gemeinschaft über den Vertrag von Lissabon (2009) hinaus – der ja eigentlich die Europäischen Gemeinschaften hatte auflösen und deren Sachzuständigkeiten restlos in die nunmehr als Rechtssubjekt verselbständigte EU hätte einbringen sollen – lag in der zunehmend unterschiedlichen Einstellung der Mitgliedstaaten zur zivilen Nutzung der Atomenergie. Die EAG (CEEA, Communauté européenne de l’énergie atomique, bzw. EAEC, European Atomic Energy Community) wird oft auch synonym als Euratom oder EURATOM abgekürzt, was immerhin den Vorteil hätte, dass diese Abkürzung auch im englischen wie französischen Sprachraum verstanden wird. Auch findet sich diese Abkürzung im EAG-Vertrag (vgl. Präambel und Art. 1 und 2). Die im Internet ubiquitär anzutreffende Behauptung, die Abkürzung Euratom ersetze mittlerweile die Abkürzung EAG, ist aber unzutreffend. Ihre Mitglieder sind – bis auf weiteres, da ein Austritt möglich wäre (str.) – mit den Mitgliedstaaten der EU identisch, außerdem ist die Schweiz seit 2014 assoziiertes Mitglied. Nach h.M. soll aus Art. 106a Abs. 1 EAGV i.V.m. Art. 49 EUV folgen, dass ein Beitritt zur EU stets auch den Beitritt zur EAG mitenthalte; überzeugend ist dies kaum.

      EEuropäische Atomgemeinschaft (EAG) (Ulrich Vosgerau) › II. Geschichte der EAG

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      Die Gründung der EAG wurde von den Benelux-Staaten auf der EGKS-Außenministerkonferenz in Messina (auf Sizilien) Anfang Juni 1955 angeregt. Die Weiterentwicklung der zivilen Nutzung der Kernenergie schien wegen deren technischer Komplexität wie Kapitalintensität die Kräfte der einzelnen Mitgliedstaaten zu übersteigen; um (zivile) Atommächte zu werden und zu bleiben, mussten die Mitgliedstaaten in der Nachkriegszeit Real- wie Humankapital konzertieren. Diese Erwägungen überwanden schließlich auch anfängliche Widerstände in Frankreich, das grundsätzlich die gesamte Kernenergienutzung, militärisch wie zivil, lieber weiter als nationale Angelegenheit behandelt hätte, jedoch durch die Suez-Krise (Oktober/November 1956) vor Augen geführt bekam, keine Großmacht mehr zu sein.

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      Die Suez-Krise hatte überdies große Sorgen um die Sicherheit der Energieversorgung und die Abhängigkeit des Westens von Ölquellen im Nahen Osten geweckt. Auch hatte v.a. Jean Monnet (→ Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl [EGKS]; → Europäische Union: Geschichte) bereits seit längerem für eine europäische Atomgemeinschaft geworben (wohingegen er der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dem eigentlichen späteren Integrationsmotor der EU, zunächst einige Skepsis entgegenbrachte). Frankreich setzte – entgegen der Intention Monnets, dem eigentlich ein mit der EAG-Gründung verbundener Verzicht aller Mitglieder auf Atomwaffen vorgeschwebt hatte – seine Hoffnungen nicht zuletzt auch deswegen auf die Integration der Atomenergie, weil Frankreich einerseits unabhängig von den USA eigene Atomwaffen entwickeln und andererseits die seit Aufhebung des Besatzungsstatuts nunmehr erlaubte deutsche Kerntechnikentwicklung unbedingt unter Kontrolle behalten wollte. In Deutschland wollte man in Atomfragen hingegen zunächst mit den technisch viel weiter fortgeschrittenen US-Amerikanern und Briten zusammenarbeiten, da allzu deutlich wurde, dass die EAG recht einseitig dem französischen Interesse, ebenfalls zur Atommacht aufzusteigen, dienen sollte. Dieser Erwägung trat aber wiederum der Wille entgegen, die nach dem sog. EVG-Schock, d.h. dem Scheitern der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (→ Europäische Union: Geschichte), befürchtete Lähmung des Integrationsprozesses durch neue Einigungsprojekte zu überwinden, die auf geringere Widerstände stoßen würden. Zudem bestand damals die fast allseitige Überzeugung, dass die Kernenergie die Energiequelle der Zukunft sei, deren Erschließung eine beispiellose technisch-industrielle Revolution und ungeahnten Massenwohlstand nach sich ziehen würde.

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      Deutschland und die Benelux-Staaten strebten jedoch nach wie vor eine Wirtschaftsgemeinschaft an und speziell Deutschland machte die Einführung einer Atomgemeinschaft von der gleichzeitigen Gründung auch einer weitergehenden Wirtschaftsgemeinschaft abhängig. Entscheidend für die französische Zustimmung war dann die Zusicherung Adenauers im November 1956 gegenüber den Franzosen, dass die EAG sich nicht auf den militärischen Bereich erstrecken würde, obwohl sie das Eigentum an den besonderen spaltbaren Stoffen innehaben müsse (weil dies wiederum Voraussetzung für die Unterstützung des Ausbaus der europäischen Kernenergie durch die USA war, was die Franzosen klarer gesehen hatten als zunächst Adenauer). Nach diversen weiteren Verhandlungen auf drei Außenministerkonferenzen und einer Konferenz der Staats- und Regierungschefs konnte die EAG schließlich als eine der drei Europäischen Gemeinschaften (→ Europäische Union: Geschichte) durch die Römischen Verträge vom 25.3.1957 ins Leben gerufen werden und trat am 1.1.1958 in Kraft.

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      Der EAG-Vertrag wurde seither wiederholt der sich wandelnden Primärvertragslage angepasst, jedoch in der Sache kaum verändert. Seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 erweiterte sich die Tätigkeit der EAG allerdings auch auf die Vorsorge für radiologische Notstandssituationen; sie setzt seither, gestützt auf Art. 30 EAGV, als sog. Grundnormen für den Gesundheitsschutz im Verordnungswege zulässige Höchstwerte an Radioaktivität in Futter- und Nahrungsmitteln fest. In der heutigen Zeit bildet der Schutz von Umwelt und Gesundheit vor radioaktiver Strahlung (und nicht mehr die Förderung der Kernforschung) eindeutig den Schwerpunkt der Aktivitäten der EAG.

      EEuropäische Atomgemeinschaft (EAG) (Ulrich Vosgerau) › III. Aufgaben und Arbeitsweise der EAG

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      Die EAG besitzt Rechtspersönlichkeit und ist in allen Mitgliedstaaten rechts- und geschäftsfähig; seit 1967 wird sie (infolge des EG-Fusionsvertrags von 1965, vorbereitet durch das Fusionsabkommen von 1957) von der Kommission vertreten, seit dem Vertrag von Lissabon kann man dies