Bernhard Kempen

Europarecht


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Methoden vorgenommen wird oder als eigene Methodik erst anschließend erfolgen kann, ist für die Rechtsprechungswirklichkeit aber zumeist unerheblich, da durch die Gerichte i.d.R. ohnehin keine schulbuchmäßige Prüfung der einzelnen Argumente nacheinander erfolgt. Aufgrund der inhaltlichen Vorrangigkeit des Unionsrechts ist jedoch klar, dass der unionsrechtskonformen Auslegungsmethode im Verhältnis zu den anderen Methoden grundsätzlich die entscheidende Bedeutung zukommen muss.

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      Das methodische Konzept der unionsrechtskonformen Auslegung lässt sich z.T. auch unter anderer Bezeichnung finden. Jedoch sind diese Benennungen nicht ohne weiteres austauschbar. Das einzige tatsächliche Synonym zur unionsrechtskonformen Auslegung ist die EU-rechtskonforme Auslegung. Die terminologischen Vorläufer hierzu sind die gemeinschaftsrechts- und die EG-rechtskonforme Auslegung. Diese entsprechen heute jedoch nicht mehr der Vertragswirklichkeit und sind damit letztlich veraltet. Die Bezeichnung als europarechtskonforme Auslegung ist hingegen ungenau, da das Europarecht i.w.S. neben dem Unionsrecht auch bspw. das Recht des Europarates umfasst (→ Europarecht: Begriff).

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      Die richtlinienkonforme und die rahmenbeschlusskonforme Auslegung beschreiben dagegen nur die Auslegung des nationalen Rechts im Einklang mit einer → Richtlinie oder einem Rahmenbeschluss. Dementsprechend stellen sie lediglich Unterfälle der unionsrechtskonformen Auslegung dar. Neben diesen beiden Spezifika schließt die unionsrechtskonforme Auslegung als methodischer Oberbegriff zudem das sonstige Unionsrecht ein, das bei der Auslegung nationaler Normen ebenfalls berücksichtigt werden muss (z.B. Allgemeine Rechtsgrundsätze, Gewohnheitsrecht).

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      Die rechtlichen Grundlagen für eine unionsrechtskonforme Auslegung finden sich sowohl im Unionsrecht als auch im nationalen Recht. Nach überwiegender Auffassung wird die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit in Art. 4 Abs. 3 EUV hergeleitet (→ Unionstreue). Diese allgemeine Loyalitätspflicht stellt sich nicht nur für die Mitgliedstaaten selbst, sondern für alle ihre Träger öffentlicher Gewalt. Daher haben auch diese nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV jegliche Maßnahmen zu ergreifen, welche zur Erfüllung der Unionsverpflichtungen geeignet sind und sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Unionsorgane ergeben. Dementsprechend sind auch die mitgliedstaatlichen Gerichte dazu verpflichtet, die Unionsziele zu schützen, was über die Methode der unionsrechtskonformen Auslegung erreicht wird.

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      Darüber hinaus wird die richtlinienkonforme Auslegung als Teil der unionsrechtskonformen Auslegung auch auf Art. 288 UAbs. 3 AEUV gestützt. Hiernach ist zunächst das Ziel einer Richtlinie für die Mitgliedstaaten verbindlich. Zudem regeln Richtlinien u.U. auch Detailaspekte, die ebenfalls Anspruch auf rechtliche Verbindlichkeit erheben. Ist also das Ziel oder ein Detailaspekt einer Richtlinie nur unzureichend in mitgliedstaatliches Recht transformiert worden, kann es den Gerichten dieses Mitgliedstaates als innerstaatlicher Stelle nach Art. 288 UAbs. 3 AEUV obliegen, eine zielgerichtete Umsetzung der Richtlinie im Wege der unionsrechtskonformen Auslegung sicherzustellen.

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      Im mitgliedstaatlichen Recht lässt sich die EU-rechtskonforme Auslegung v.a. durch die klassischen juristischen Argumente begründen. So dokumentiert bspw. die Transformation einer Richtlinie den Willen des nationalen Gesetzgebers, die Vorgaben dieser Richtlinie erfüllen zu wollen. Damit kann die Notwendigkeit einer richtlinienkonformen Auslegung als Unterfall der unionsrechtskonformen Auslegung (dazu bereits Rn. 225) einerseits aus der Intention des Gesetzgebers und dem Sinn und Zweck der Regelungen abgeleitet werden. Andererseits werden ggf. Begriffe, Formulierungen oder auch Regelungszusammenhänge aus dieser Richtlinie übernommen, so dass als Rechtsgrundlage für die unionsrechtskonforme Auslegung im mitgliedstaatlichen Recht auch der Wortlaut und die Systematik angeführt werden können.

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      Die Verpflichtung zu einer umfänglichen unionsrechtskonformen Auslegung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte besteht spätestens seit der Marleasing-Entscheidung (EuGH, Urt. v. 13. 11. 1990, C-106/89). Bezogen auf umsetzungsbedürftige Rechtsakte (z.B. Richtlinien) muss jedoch hinsichtlich des Ablaufes der Transformationsfrist differenziert werden. Vor Ablauf der Umsetzungsfrist besteht für die Richter der mitgliedstaatlichen Gerichte grundsätzlich nur die Möglichkeit zu einer unionsrechtskonformen Auslegung. Gleichwohl kann eine Verpflichtung ausnahmsweise auch schon vor dem Umsetzungsakt gegeben sein. Dies gilt jedoch ausschließlich dann, wenn die Auslegung des nationalen Rechts andernfalls das Ziel oder den Zweck des Rechtsaktes insgesamt gefährden würde, sog. Frustrationsverbot.

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      Nach Ablauf der Transformationsfrist besteht hingegen eine prinzipielle Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung. U. U. sogar dann, wenn der Rechtsakt noch nicht in mitgliedstaatliches Recht umgesetzt wurde. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass nach den Auslegungsgrenzen des jeweiligen Mitgliedstaates eine den Wortlaut der nationalen Regelung überschreitende Rechtsfortbildung vorgesehen bzw. möglich ist.

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      Die Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung sind sowohl im mitgliedstaatlichen Recht als auch im Unionsrecht verankert. Dabei muss bezüglich der absoluten Grenzen im nationalen Recht (Rn. 232 f.) und der relativen Grenzen aus dem Unionsrecht (Rn. 234 f.) unterschieden werden.

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      Die Möglichkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte, das nationale Recht auszulegen, unterliegt den nationalen verfassungsrechtlichen Grenzen. Bezogen auf das deutsche Recht können hierfür v.a. die Grundsätze der verfassungskonformen Auslegung herangezogen werden. Dementsprechend leiten sich die Grenzen der unionsrechtskonformen Auslegung für das deutsche Recht aus der Gesetzesbindung in Art. 20 Abs. 3 GG, dem Gewaltenteilungsprinzip in Art. 20 Abs. 2 GG sowie dem Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG ab.

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      Im Hinblick auf die Gesetzesbindung darf eine Vorschrift somit niemals contra legem ausgelegt werden. Entscheidend für einen Verstoß gegen diese Bindung des Richters an das Gesetz ist dabei die Eindeutigkeit der Vorschrift. Er darf diese somit niemals gegen den eindeutigen Wortlaut, den eindeutigen Willen des Gesetzgebers bzw. den eindeutigen Sinn und Zweck der Vorschrift auslegen. Sollte eine unionsrechtskonforme Auslegung wegen dieser verfassungsrechtlichen Grenzen nicht möglich sein, könnte das Unionsrecht somit nur über einen Anwendungsvorrang seine rechtliche Wirkung entfalten.

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      Grundsätzlich unterliegen die mitgliedstaatlichen Gerichte ausschließlich den nationalen verfassungsrechtlichen Auslegungsgrenzen.