Bernhard Kempen

Europarecht


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die Verwirklichung des Binnenmarktes hindernder Regelungen aufgrund der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts. Besonders die Grundfreiheiten wirken in diesem Sinne negativ integrierend. Denn sie binden die Mitgliedstaaten nicht nur abstrakt, sondern vermitteln dem Einzelnen subjektive, gerichtlich durchsetzbare Rechte. Die negative Integration erfolgt deshalb in der Regel auf judikativem Wege, nämlich konkret dadurch, dass der EuGH anlässlich der Prüfung eines Einzelfalls die streitgegenständlichen nationalen Regelungen für unvereinbar mit dem EU-Recht erklärt. Diese Regelungen dürfen dann bei grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht mehr von den nationalen Behörden angewendet werden. Durch den – den grundfreiheitlichen Schutz zusätzlich verstärkenden, in Rn. 424 bereits angesprochenen – Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung kommt der negativen Integration mithin eine große Bedeutung bei der Verwirklichung und Verwaltung des Binnenmarktes zu.

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      Ihr besonderer Vorteil liegt darin, dass es zur Beseitigung bestehender Hemmnisse für die freie grenzüberschreitende Zirkulation von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital keines ggf. langwierigen → Rechtsetzungsverfahrens der Union bedarf.

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      Auf der anderen Seite ist bei negativ integrierenden Maßnahmen immer auch eine gewisse Gefahr von Rechtsunsicherheit gegeben, weil bei Einzelfallentscheidungen eines Gerichts naturgemäß Unklarheiten darüber entstehen können, in welchem konkreten Umfang eine Unvereinbarkeit nationaler Regelungen mit dem Binnenmarktgedanken besteht. Zudem kann es durch die Erklärung der Unanwendbarkeit nationaler Regelungen im grenzüberschreitenden Verkehr kurzfristig zu Regelungslücken im innerstaatlichen Recht bzw. zu dem Problem der sog. → Inländerdiskriminierung kommen. In diesem Kontext ist auch auf das Risiko hinzuweisen, dass der eng in Zusammenhang mit den Grundfreiheiten stehende Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in jedem betroffenen Regelungsbereich zu einer Harmonisierung auf dem niedrigsten in einem Mitgliedstaat bestehenden rechtlichen Standard führt (sog. Race-to-the-bottom-Problematik). Denn zur Vermeidung von Wettbewerbsnachteilen für die heimische Wirtschaft wird jeder Mitgliedstaat – wenn er aufgrund des EU-Rechts zur Akzeptanz etwa niedrigerer Produktions- oder Sicherheitsstandards aus anderen Mitgliedstaaten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten verpflichtet ist – geneigt sein, seine Standards entsprechend nach unten zu nivellieren. Auch aus diesem Grunde bedarf es für einen funktionierenden und wettbewerbsfähigen Binnenmarkt neben negativ auch positiv integrierender Maßnahmen.

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      Unter Maßnahmen der positiven Integration fällt der Erlass von sekundärrechtlichen (→ Sekundärrecht), rechtsangleichenden (→ Rechtsangleichung [Harmonisierung]) Regelungen (→ Verordnungen, → Richtlinien, → Beschlüsse), die auf die Beseitigung von Hindernissen bei der Verwirklichung und Verwaltung des Binnenmarktes abzielen.

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      Der Erlass solcher Regelungen bewirkt im Vergleich zur negativen Integration zunächst eine höhere Rechtssicherheit. Der Gesetzgebungsprozess ermöglicht zudem ein genaueres Austarieren ggf. widerstreitender Interessen und erhöht gleichzeitig die demokratische Legitimation der entsprechenden Maßnahmen.

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      Die Rechtsgrundlage für den Erlass positiv integrierender Maßnahmen ist nicht Art. 26 Abs. 1 AEUV selbst, denn dieser beinhaltet lediglich einen Handlungsauftrag an die zuständigen EU-Organe. Die entsprechenden Befugnisse finden sich vielmehr in speziellen, der Verwirklichung des Binnenmarktes dienenden Regelungen. Hierzu zählen z.B. Art. 46 AEUV bezüglich Maßnahmen zur Herstellung der → Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 56 AEUV für den Bereich der → Dienstleistungsfreiheit oder Art. 113 AEUV bei der Harmonisierung der indirekten Steuern.

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      Bei der sachlichen Zuständigkeit für den Erlass entsprechender Legislativakte bedürfen die Art. 3, 4 AEUV besonderer Beachtung. In den speziellen Bereichen des Art. 3 AEUV – so z.B. bei der Zollunion (Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) AEUV) oder der Festlegung der für das Funktionieren des Binnenmarktes erforderlichen Wettbewerbsregeln (Art. 3 Abs. 1 Buchst. b) AEUV) – besteht eine ausschließliche Zuständigkeit der EU-Organe, während Art. 4 Abs. 2 Buchst. a) AEUV für allgemeine den Binnenmarkt betreffende Fragen eine geteilte Zuständigkeit zwischen der EU und den Mitgliedstaaten vorsieht.

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      Besondere Bedeutung i.R.d. positiven Integration kommt Art. 114 AEUV zu, der generalklauselartig den Erlass von Maßnahmen zur Verwirklichung und Verwaltung des Binnenmarktes mittels Rechtsangleichung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zulässt. Dogmatisch ist die Norm dem Bereich der geteilten Kompetenz nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a) AEUV zuzuordnen. In sachlicher Hinsicht erfasst die Vorschrift nach dem Wortlaut des Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV querschnittartig alle Bereiche, die der geteilten Zuständigkeit nach Art. 4 Abs. 2 Buchst. a) AEUV unterfallen, soweit nichts anderes bestimmt ist. Speziellere Vorschriften, wie etwa Art. 43 AEUV (gemeinsame Agrarpolitik), genießen mithin gegenüber Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV Vorrang. Darüber hinaus nimmt Art. 114 Abs. 2 AEUV die Bereiche Steuern, Freizügigkeit und Arbeitnehmerrechte aus dem Anwendungsbereich der Norm aus.

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      Abzugrenzen ist Art. 114 AEUV des Weiteren von Art. 115 AEUV, der ebenfalls rechtsangleichende Maßnahmen der EU für die Verwirklichung und das Funktionieren des Binnenmarktes zulässt. Die formalen Voraussetzungen für den Erlass entsprechender Maßnahmen liegen bei Art. 115 AEUV jedoch höher, denn die Entscheidung muss hier in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig vom Rat getroffen werden. Dafür können i.R.d. Art. 115 AEUV auch solche Maßnahmen erlassen werden, die vom Anwendungsbereich des Art. 114 AEUV nach dessen Abs. 2 ausgeschlossen sind. Bereits aus der Zuordnung der Vorschrift zum Bereich der geteilten Zuständigkeit ergibt sich, dass die EU-Organe nicht bereits dann tätig werden können, wenn in einem bestimmten normativen Bereich divergierende nationale Vorschriften existieren. Nach der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 9.10.2001, Rs. C-377/98 – Niederlande/EP und Rat –, Rn 15) bedarf es beim Erlass einer entsprechenden Maßnahme vielmehr zumindest einer Wahrscheinlichkeit, dass der Binnenmarkt durch unterschiedliche mitgliedstaatliche Regelungen anderfalls eine negative Beeinträchtigung erfährt. Die beabsichtige Maßnahme muss zudem tatsächlich geeignet sein, die Beeinträchtigung zu beseitigen. Diese vom EuGH vorgenommene Eingrenzung der sich aus Art. 114 Abs. 1 S. 1 AEUV ergebenden Befugnisse lässt sich u.a. mit dem → Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV erklären.

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      Zu beachten ist weiterhin, dass Art. 114 AEUV seinem Wortlaut nach nur rechtsangleichende und keine rechtsvereinheitlichenden Maßnahmen zulässt. Ein auf eine Rechtsvereinheitlichung abzielendes Tätigwerden der EU stünde in offenem Widerspruch zu dem in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 1 EUV statuierten → Grundsatz der Subsidiarität und dem in Art. 5 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 EUV verankerten → Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Normtechnisch stellt damit