Bernhard Kempen

Europarecht


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ausgelegt. Abstimmungen als Formen direkter Demokratie sind auf Bundesebene nur in wenigen ausdrücklich vorgesehenen Fällen zugelassen.

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      Im Wesentlichen beschreibt das Demokratieprinzip nach deutschem Verständnis somit die Herrschaft des Volkes. Alle Staatsgewalt muss letztlich auf den Willen des deutschen Volkes als Träger ebendieser rückführbar sein. In einem Staat, in welchem Grundrechte gewährleistet werden, kann Staatsgewalt nur ausüben, wer demokratisch legitimiert ist. Daraus ergeben sich auch Anforderungen für die Wahl der Volksvertreter, welche gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG „in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“ werden. Auch das Mehrheitsprinzip, also das Prinzip der Herrschaft der Mehrheit auf Zeit, ist somit vom Demokratieprinzip geschützt. Gleiches gilt für das Erfordernis des effektiven Minderheitenschutzes, des Mehrparteiensystems sowie des Transparenzgebots. Weitere Ausprägungen des Demokratieprinzips stellen z.B. der Parlamentsvorbehalt sowie das Bestehen demokratischer Grundrechte an sich dar.

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      Ausgehend von den nationalen Verfassungstraditionen hat sich ein gemeinsamer Minimalkonsens entwickelt. Gewisse Gewährleistungen der Demokratie sind somit von allen Mitgliedstaaten anerkannt und in internationalen Verträgen festgehalten. So sind nach Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur → Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) alle Vertragsparteien der EMRK – und damit auch alle Mitgliedstaaten der EU – dazu verpflichtet, „in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten“. Ähnliches besagt Art. 21 Abs. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), wonach der Wille des Volkes „die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt“ bildet und dieser Wille „durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder einem gleichwertigen freien Wahlverfahren“ zum Ausdruck kommen muss. Auch Art. 25 Buchst. b) IPbpR garantiert jedem Staatsbürger das aktive und passive Wahlrecht bei „echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, bei denen die freie Äußerung des Wählerwillens gewährleistet ist“. Das periodische Wahlrecht zu den repräsentativen Körperschaften stellt somit einen wesentlichen, allgemein anerkannten Aspekt des Demokratieprinzips dar.

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      Im Kopenhagener Abschlussdokument des Treffens über die menschliche Dimension der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) – Vorgängerin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE; dazu → Internationale Kooperationspartner) – im Jahr 1990 wird das Erfordernis freier, geheimer und fairer Wahlen in angemessenen Zeitabständen ebenfalls proklamiert. Überdies werden dort weitere Kernaspekte des Demokratieprinzips festgehalten. Dabei handelt es sich u.a. um eine repräsentative Regierungsform, das Recht auf die Gründung politischer Parteien, den Minderheitenschutz, die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung sowie das Bestehen demokratischer Grundrechte wie der Meinungs- und der Versammlungsfreiheit.

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      Das Demokratieverständnis der EU geht auf das der Mitgliedstaaten zurück. Der Grund für das Vorhandensein einer demokratischen Komponente in der Europäischen Union besteht darin, dass die Union mit ihrer Rechtsetzungsgewalt auch Rechte der EU-Bürger einzuschränken in der Lage ist. Nach geläutertem Demokratieverständnis ist dies allerdings nur durch demokratisch legitimierte Organe möglich. Die in den Mitgliedstaaten wurzelnde Demokratieidee ergibt sich bereits aus Art. 2 EUV, wonach die Demokratie einen Wert darstellt, der allen Mitgliedstaaten gemeinsam ist. Nichtsdestotrotz bestehen auch zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede in Bezug auf die konkreten Ausgestaltungen des Prinzips. Insofern ist stets von einem modifizierten unionsrechtlichen Demokratieprinzip auszugehen. Art. 9 EUV normiert dazu zunächst die Gleichheit aller Unionsbürger sowie die → Unionsbürgerschaft. Dieser Artikel, der als redaktionell und systematisch misslungen kritisiert wird, hebt den bürgerschaftlichen Aspekt des Demokratieprinzips hervor. Bedeutung gewinnt er insbesondere in der Zusammenschau mit Art. 10 und Art. 11 EUV.

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      Die Kernbestimmung zum unionsrechtlichen Demokratieverständnis bildet Art. 10 Abs. 1 EUV, der den Grundsatz der repräsentativen Demokratie festhält. Danach wird die Herrschaftsmacht innerhalb der Union – wie grundsätzlich auch in den Mitgliedstaaten – nicht direkt durch die Unionsbürger, sondern durch von ihnen bestimmte und somit demokratisch legimitierte Repräsentanten ausgeübt. Demnach muss grundsätzlich jedes Handeln der EU vom Willen der Unionsbürger getragen sein. Art. 10 Abs. 2 EUV konkretisiert diesen Grundsatz speziell für die EU dahingehend, dass die Unionsbürger „auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“ sind (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1 EUV). Darüber hinaus werden die Mitgliedstaaten „im Europäischen Rat von ihrem jeweiligen Staats- oder Regierungschef und im Rat von ihrer jeweiligen Regierung vertreten, die ihrerseits in demokratischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft ablegen müssen“ (Art. 10 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). Die EU beruht somit auf einem sog. doppelten Legitimationsstrang.

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      Demokratische Legitimation wird hier zunächst durch die Wahl zum → Europäischen Parlament als Repräsentationsorgan der Unionsbürger gewährleistet (s. a. → Europäisches Parlament: Wahlrecht). Ausformungen dieses Legitimationsstrangs bilden u.a. das aktive und passive Wahlrecht der Unionsbürger bei den Wahlen für das Europäische Parlament (Art. 22 Abs. 2 AEUV), das Wahlverfahrensrecht (Art. 223 Abs. 1 AEUV) und die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 14 Abs. 3 EUV, wonach die Parlamentarier in „allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt“ werden. Daneben vermittelt die demokratische Rückbindung der im → Europäischen Rat und im → Rat (Ministerrat) vertretenen Regierungsmitglieder an die jeweiligen nationalen Parlamente einen zweiten Legitimationsstrang (zur Tragfähigkeit der demokratischen Legitimation s. Rn. 520–524). Der Einfluss der nationalen Parlamente auf die Willensbildung innerhalb der EU wurde mit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages beachtlich gestärkt (→ Europäische Union: Geschichte). So regelt Art. 12 EUV nunmehr Informationsrechte hinsichtlich Entwürfen von Gesetzgebungsakten (dazu → Rechtsakte) und Anträgen für den → Beitritt (zur EU). Des Weiteren gewährleistet die Norm Mitwirkungs- und Kontrollrechte, insbesondere im Verfahren zur → Vertragsänderung sowie in Bezug auf die Einhaltung des → Grundsatzes der Subsidiarität und des → Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Ferner sind die nationalen Parlamente an der Bewertung der Durchführung der Unionspolitik i.R.d. → Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu beteiligen