Bernhard Kempen

Europarecht


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der Tätigkeit der → Einheit für justizielle Zusammenarbeit der EU (Eurojust) einzubeziehen.

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      Art. 10 Abs. 3 S. 1 EUV gewährleistet den Unionsbürgern das Recht, „am demokratischen Leben der Union teilzunehmen“. Eine Konkretisierung dieser Teilhaberechte findet sich in Art. 24 UAbs. 2 und Art. 227 AEUV in Form des Petitionsrechts sowie in Art. 24 UAbs. 3 und Art. 228 AEUV in Form des Beschwerderechts zum Bürgerbeauftragten. Ferner hat jeder Unionsbürger nach Art. 24 UAbs. 4 AEUV ein Fragerecht gegenüber den → Organen und Einrichtungen der EU.

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      Mit Art. 11 EUV sind weitere Teilhabemöglichkeiten hinzugetreten. So enthält Art. 11 Abs. 1 EUV das Gebot, den Unionsbürgern und repräsentativen Verbänden die Möglichkeit zu bieten, ihre Ansichten in „allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen“. Nach Art. 11 Abs. 3 EUV hat die → Europäische Kommission Betroffenenanhörungen durchzuführen. In gleichem Sinne sieht Art. 11 Abs. 2 EUV den „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft“ vor. Art. 10 Abs. 3 und Art. 11 EUV weisen somit Elemente partizipativer und assoziativer Demokratie auf. Hervorzuheben ist auch Art. 11 Abs. 4 EUV, der die → Bürgerinitiative als Element direkter Demokratie auf Unionsebene einführt. Wie auf nationaler Ebene stellen Formen direkter Demokratie auch in der EU die Ausnahme dar.

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      Art. 10 Abs. 3 S. 2 EUV legt fest, dass Entscheidungen auf EU-Ebene „so offen und bürgernah wie möglich getroffen“ werden. Dem Erfordernis möglichst bürgernaher Entscheidungen dient insbesondere der Grundsatz der Subsidiarität. Danach darf die EU in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur dann tätig werden, wenn die dortigen Ziele durch Maßnahmen auf Unionsebene „besser“ zu verwirklichen sind (vgl. Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV). Vorrangig sollen Entscheidungen somit auf Ebene der Mitgliedstaaten getroffen werden. Dies dient dem Schutz nationaler Identitäten, ermöglicht aber auch mehr Partizipation und effizientere Lösungen (dazu ausführlich → Grundsatz der Subsidiarität).

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      Mit der Offenheit der Entscheidungen wird ferner das Transparenzgebot angedeutet, welches u.a. in Art. 11 Abs. 2 EUV erwähnt wird. Danach müssen die Entscheidungen der EU möglichst verständlich und nachvollziehbar sein, um politische Kontrolle zu ermöglichen. Dies setzt zunächst den Zugang zu Dokumenten der Organe und Einrichtungen der EU voraus (vgl. Art. 15 Abs. 3 AEUV). Auch sind → Richtlinien und → Verordnungen der EU im Amtsblatt zu veröffentlichen und mit einer Begründung zu versehen (Art. 296 f. AEUV). Seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages sind zudem die Sitzungen des Rates öffentlich, wenn dieser über Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt (Art. 16 Abs. 8 EUV; → Rechtsetzungsverfahren). Ein besonderer Aspekt der Offenheit und Bürgernähe ist zudem die Veröffentlichung der Unionstexte in sämtlichen Amtssprachen einerseits und die Kontaktaufnahmemöglichkeit der Unionsbürger mit den Organen und Einrichtungen der EU in den betreffenden Sprachen andererseits (dazu ausführlich → Sprachenregime der EU).

      DDemokratieprinzip (Stephan Hobe) › III. Vorwurf des Demokratiedefizits

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      Seit jeher sieht sich die EU dem Vorwurf des sog. Demokratiedefizits ausgesetzt. Plakativ heißt es dabei, die Union würde am Kriterium der Demokratie scheitern, würde sie sich selbst beitreten wollen. Das Problem wurzelt in der Willensbildung in der EU. Es ergibt sich v.a. aus der Stellung des Rates, welcher das Hauptrechtsetzungsorgan der EU darstellt, obwohl er aus Regierungsvertretern zusammengesetzt und somit nur mittelbar demokratisch legitimiert ist. Die Position des Europäischen Parlaments wurde zwar durch den Vertrag von Lissabon – insbesondere durch die Erhebung zum Co-Gesetzgeber im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289, 294 AEUV) – gestärkt, doch kommt dem Rat nach wie vor eine wesentliche Rolle bei der Gesetzgebung zu. Insbesondere hat das Parlament weiterhin kein Gesetzesinitiativrecht (dazu → Rechtsetzungsverfahren).

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      Auch die degressiv proportionale Sitzverteilung (s. Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3, 4 EUV), welche zu einer Unterrepräsentation der bevölkerungsreichen und Überrepräsentation der bevölkerungsschwachen Mitgliedstaaten im Parlament führt, trägt zum Demokratiedefizit bei. Diese ungleiche Repräsentation der Unionsbürger stellt einen Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit dar, da der Erfolgswert der Stimmen nicht gleich ist. Allerdings gehört die Wahlrechtsgleichheit gerade nicht zu den explizit in Art. 14 Abs. 3 EUV genannten Wahlrechtsgrundsätzen. Auch dient das degressiv proportionale System der Wahrung des Grundsatzes der Gleichheit der Staaten (Näheres → Europäisches Parlament: Wahlrecht).

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      Überdies darf die besondere Struktur der Union nicht verkannt werden. Die EU ist zwar „mehr“ als eine bloße Supranationale Organisation, doch ist sie kein Bundesstaat (→ Europäische Union: Strukturprinzipien). Ein dahingehender Wille ist auch nicht erkennbar. Weiterhin verfügt sie über kein eigenes Staatsvolk, das durch ein Parlament vertreten werden könnte. In einem solchen Staatenverbund kann demokratische Legitimation naturgemäß nicht in gleicher Weise wie in einem Bundesstaat hergestellt werden. Erforderlich ist vielmehr eine bloß strukturangepasste Grundsatzkongruenz, also ein demokratischer Standard, der den Besonderheiten der EU Rechnung trägt (s. auch → Konstitutionalisierung).

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      So erkennt auch das BVerfG an, dass die Europäische Union, „[d]a und soweit“ sie nur abgeleitete öffentliche Gewalt ausübe, „den Anforderungen [der Demokratie] nicht vollständig zu genügen“ brauche (BVerfGE 123, 267 [368, Rn. 271] – Lissabon; ähnlich BVerfGE 89, 155 [182] – Maastricht). Das Europäische Parlament wird vom BVerfG als bloß „zusätzliche Quelle für demokratische Legitimation“ gesehen (BVerfGE 123, 267 [368, Rn. 271] – Lissabon). Angesicht des → Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung und „solange eine ausgewogene Balance der Unionszuständigkeiten und der staatlichen Zuständigkeiten erhalten bleibt, kann und muss die Demokratie der Europäischen Union nicht staatsanalog ausgestaltet sein“ (BVerfGE 123, 267 [368 f.; Rn. 272] – Lissabon).

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      Je mehr Befugnisse auf die EU übergehen, desto höhere