Bernhard Kempen

Europarecht


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      Staatsangehörige aus Drittstaaten können sich nicht unmittelbar auf die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 UAbs. 1 AEUV berufen, selbst wenn sie in einem Mitgliedstaat ansässig sind (EuGH, Urt. v. 3.10.2006, C-290/04 – FKP Scorpio –, Rn. 68). Von der diesbezüglichen Rechtsetzungskompetenz der Unionsorgane in Art. 56 UAbs. 2 AEUV wurde bislang kein Gebrauch gemacht. Über Art. 36 ff. EWR-Abkommen wird allerdings der freie Dienstleistungsverkehr auf das Gebiet der EFTA-Staaten erstreckt (→ Europäische Freihandelszone [EFTA]). Auf diesem Wege sind auch Staatsangehörige aus Island, Norwegen und Liechtenstein Berechtigte der Dienstleistungsfreiheit. Mit der Schweiz wird die Dienstleistungsfreiheit über ein spezielles Freizügigkeitsabkommen in ähnlichem Umfang gewährleistet. Des Weiteren können sich besondere Regelungen aus völkerrechtlichen Vereinbarungen ergeben. Von praktischer Bedeutung ist insbesondere das Assoziations- oder Kooperationsabkommen der EU mit der Türkei (vgl. hierzu EuGH, Urt. v. 21.10.2003, C-317/01 – Abatay –, Rn. 58 ff.).

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      Gem. Art. 61 i.V.m. Art. 54 UAbs. 1 AEUV können sich Gesellschaften, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates gegründet wurden und die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, wie die Unionsbürger auf die Gewährleistungen der Dienstleistungsfreiheit berufen. Ausgenommen sind gem. Art. 61 i.V.m. Art. 54 UAbs. 2 AEUV Gesellschaften, die keinen Erwerbszweck verfolgen.

      aa) Begriff Dienstleistung

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      Der sachliche Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit ergibt sich aus Art. 57 AEUV. Gem. Art. 57 UAbs. 1 AEUV sind Dienstleistungen i.S.d. Verträge Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. Art. 57 UAbs. 2 AEUV enthält eine exemplarische, nicht abschließende Aufzählung der umfassten Tätigkeiten. Als Dienstleistungen gelten danach insbesondere gewerbliche, kaufmännische, handwerkliche und freiberufliche Tätigkeiten. Völlig untergeordnete und unwesentliche Leistungen sowie in sämtlichen Mitgliedstaaten verbotene Tätigkeiten unterfallen dagegen nicht dem Schutzbereich (EuGH, Urt. v. 5.10.1988, 196/87 – Steymann –, Rn. 13; Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 42). In Bezug auf Dienstleistungen auf dem Gebiet des Verkehrs gelten gem. Art. 58 Abs. 1 AEUV die speziellen Bestimmungen der Art. 90 ff. AEUV.

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      Aus dem Erfordernis der Entgeltlichkeit ergibt sich, dass die Dienstleistung einen wirtschaftlichen Charakter aufweisen muss. Der Erbringer der Dienstleistung muss für die Tätigkeit eine wirtschaftliche Gegenleistung erhalten, die aber weder in Geld geleistet werden noch die Kosten der Leistungserbringung vollständig decken muss (EuGH, Urt. v. 5.10.1988, 196/87 – Steymann –, Rn. 11 f.). Das Entgelt kann auch von einem Dritten gezahlt werden, dem die Leistung nicht zugutekommt (EuGH, Urt. v. 26.4.1988, 352/85 – Bond van Adverteerders –, Rn. 16; Urt. v. 23.2.2016, C-179/14 – Erzsebet-Gutscheine –, Rn. 155). Weitgehend für die Nutzer kostenfrei erbrachte Leistungen, etwa staatliche Bildungsleistungen, fallen nicht in den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit (EuGH, Urt. v. 27.9.1988, 263/86 – Humbel und Edel –, Rn. 18 ff.; Urt. v. 24.3.1994, C-275/92 – Schindler –, Rn. 33).

      bb) Abgrenzung und Verhältnis zu anderen Grundfreiheiten

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      Aus Art. 57 UAbs. 3 AEUV ergibt sich in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit, dass die Tätigkeiten in dem Aufnahmemitgliedstaat lediglich vorübergehend ausgeübt werden sollen und damit keine dauerhafte Integration in die Volkswirtschaft des Aufnahmestaates angestrebt wird. Typischerweise unterfallen der Dienstleistungsfreiheit damit Leistungen, deren Erbringung auf wenige Monate angelegt ist und die nicht kontinuierlich wiederkehrend angeboten werden sollen. Es können aber auch Tätigkeiten, die sich über einen längeren Zeitraum bis hin zu mehreren Jahren erstrecken, unter den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit fallen, wenn der vorübergehende Charakter überwiegt (EuGH, Urt. v. 11.12.2003, C-215/01 – Schnitzer –, Rn. 30).

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      Abzugrenzen ist die Dienstleistungsfreiheit weiterhin von der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Entscheidend ist das Element der selbständigen Erbringung der Dienstleistung. Die Entsendung von Arbeitnehmern in einen anderen Mitgliedstaat zur Erbringung einer Dienstleistung ist daher der Dienstleistungsfreiheit zuzuordnen (EuGH, Urt. v. 18.12.2007, C-341/05 – Laval –, Rn. 85; Urt. v. 19.6.2014, C-53/13 – Strojirny Prostejov –, Rn. 25 f.). Die Dienstleistungsfreiheit ist auch für die Arbeitnehmerüberlassung einschlägig, bei der ein Unternehmen einem anderen Unternehmen entgeltlich bei ihm angestellte Arbeitnehmer zur Verfügung stellt, ohne dass die Arbeitnehmer mit dem Entleihunternehmen einen Arbeitsvertrag abschließen (EuGH, Urt. v. 10.2.2011, C-307/09 – Vicoplus –, Rn. 27). Die Leistungserbringung von Spitzensportlern unterfällt der Arbeitnehmerfreizügigkeit, wenn die Sportler bei Vereinen angestellt sind, dagegen der Dienstleistungsfreiheit, wenn sich die Sportler über Preisgelder und Sponsorenverträge finanzieren (EuGH, Urt. v. 11.4.2000, C-51/96 – Deliege –, Rn. 56 ff.).

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      Im Einzelfall kann zudem die Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit problematisch sein. Der Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit ist eröffnet, wenn die Tätigkeit auf die Produktion und den Absatz körperlicher Gegenstände gerichtet ist. Von dem Begriff der Dienstleistungen werden Tätigkeiten erfasst, die eine personenbezogene, also insbesondere eine geistig-schöpferische Leistung beinhalten. Lassen sich die produktbezogenen und die personenbezogenen Leistungen trennen, können beide Grundfreiheiten nebeneinander angewandt werden (EuGH, Urt. v. 30.4.1974, 155/73 – Sacchi –, Rn. 6 ff.). Bei untrennbaren Leistungen ist nach dem Schwerpunkt der Tätigkeit zu unterscheiden. So wird etwa bei einer Bewirtungstätigkeit in einem Gasthaus häufig das Dienstleistungselement gegenüber dem Verkauf der Waren überwiegen (EuGH, Urt. v. 10.3.2005, C-491/03 – Hermann –, Rn. 26 ff.; Urt. v. 16.12.2010, C-137/09 – Josemans –, Rn. 49).

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      Im Verhältnis zur Kapitalverkehrsfreiheit ergibt sich aus Art. 58 Abs. 2 AEUV, dass beide Freiheiten nebeneinander Anwendung finden können. Die Dienstleistungsfreiheit ist trotz des Wortlauts in Art. 57 UAbs. 1 AEUV nicht subsidiär. Erfasst eine der beiden Grundfreiheiten den zu beurteilenden Sachverhalt weit überwiegend, ist nur anhand dieser Freiheit die Prüfung vorzunehmen. Behindert z.B. eine nationale Regelung vorrangig die Möglichkeit für ausländische Finanzdienstleister, ihre Tätigkeiten auf dem nationalen Markt anbieten zu können, tritt die damit einhergehende Reduzierung des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs danach zurück (EuGH, Urt. v. 3.10.2006, C-452/04 – Fidium Finanz AG –, Rn. 34; Urt. v. 8.6.2017, C-580/15 – Van der Weegen –, Rn. 25).

      cc) Gewährleistungsdimensionen

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      Gemäß dem Wortlaut in Art. 56 UAbs. 1 und Art. 57 UAbs. 3 AEUV gewährleistet die Dienstleistungsfreiheit das Recht eines Dienstleistungserbringers, seine Tätigkeit vorübergehend in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Heimatstaat unter denselben Voraussetzungen auszuüben, die der Aufnahmestaat für seine Angehörigen vorsieht (sog. aktive Dienstleistungsfreiheit). Unerheblich ist hierbei, wenn der Erbringer und der Empfänger der Dienstleistung dieselbe Nationalität besitzen (EuGH, Urt. v. 26.2.1991, C-180/89 – Fremdenführer –, Rn. 8). Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich als zweite Fallgruppe darüber hinaus, dass das Recht der Dienstleistungsempfänger gewährleistet ist, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort die Dienstleistung entgegenzunehmen bzw. die in einem anderen Mitgliedstaat erbrachte Dienstleistung im eigenen Heimatstaat nutzen