Bernhard Kempen

Europarecht


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Dieses Schutzregime erweitert und stärkt den Schutz der Unionsbürger. Die praktische Bedeutung dieses erweiterten Schutzes wird daran deutlich, dass in nur sehr wenigen Staaten der Welt alle Mitgliedstaaten der EU eine eigene Vertretung unterhalten.

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      In Art. 23 AEUV stimmen die Mitgliedstaaten der EU zu, dass sie gegenseitig ihren Staatsangehörigen diplomatischen Schutz gewähren. Dabei umfasst Art. 23 AEUV dem Wortlaut der deutschen Fassung nach die Ausübung von „diplomatischem und konsularischem Schutz“. Andere Sprachfassungen legen nahe, dass es beim „Schutz“ i.S.d. Art. 23 AEUV nicht um die umfassende Gewährung diplomatischen Schutzes, sondern nur um den Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden vor Ort geht („protection by diplomatic or consular authorities“; „protection de la part des autorités diplomatiques et consulaires“). Dies bestätigt Art. 46 GRCh. Unter den Voraussetzungen des Art. 23 AEUV ist jeder Unionsbürger berechtigt, die Botschaft oder das Konsulat jedes Mitgliedstaats in einem Drittstaat um diplomatischen oder konsularischen Schutz zu ersuchen. Sinn und Zweck der Regelung ist es, dass jeder Unionsbürger die Auslandsvertretung eines anderen Mitgliedstaats als Institution in Anspruch nehmen kann. Der Schutz des Art. 23 AEUV ist auf diese institutionelle Anbindung begrenzt. Er bezieht sich somit nicht auf diplomatische Maßnahmen, die ein Staat unabhängig von seiner Auslandsvertretung ergreift, sondern umfasst insbesondere konsularische Maßnahmen. Dementsprechend regelt das konkretisierende → Sekundärrecht den konsularischen Schutz der Unionsbürger (Konsularschutz-Richtlinie [RL 2015/637/EU]).

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      Bei der Schutzpflicht des Art. 23 AEUV handelt es sich um eine komplementäre Schutzpflicht. Ein Mitgliedstaat ist nur dazu verpflichtet, einem Staatsangehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat diplomatischen und konsularischen Schutz zu gewähren, wenn der Heimatstaat in dem jeweiligen Drittstaat nicht vertreten ist. Nach Art. 6 der Konsularschutz-Richtlinie ist ein Mitgliedstaat in einem Staat nicht vertreten, wenn dieser in dem Drittstaat keine Botschaft, kein Konsulat und keinen Honorarkonsul hat, die effektiv in der Lage sind, ihm konsularischen Schutz zu gewähren.

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      Art. 23 UAbs. 1 AEUV und Art. 46 GRCh verpflichten die Mitgliedstaaten. Sie haben die notwendigen Vorkehrungen zu treffen und die erforderlichen internationalen Verhandlungen einzuleiten, um den Schutzanspruch des Art. 23 AEUV zu gewährleisten (Art. 23 UAbs. 1 S. 2 AEUV). Gegebenenfalls müssen sie ihr nationales Recht anpassen, um Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedstaaten unter den Voraussetzungen des Art. 23 AEUV in demselben Umfang diplomatischen und konsularischen Schutz zu gewähren wie eigenen Staatsangehörigen.

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      Art. 23 AEUV verpflichtet nicht die EU und ihre Delegationen unter dem Dach des → Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD). Die EU selbst gewährt keinen diplomatischen oder konsularischen Schutz. Ihre Delegationen unterstützen aber die Mitgliedstaaten bei ihrer Aufgabe, den Unionsbürgern konsularischen Schutz zu gewähren, indem sie logistische Unterstützung leisten, den Informationsaustausch zwischen den Botschaften und Konsulaten der Mitgliedstaaten fördern und Informationen über die Hilfe zur Verfügung stellen, auf die nicht vertretene Unionsbürger Anspruch haben (Art. 11 Konsularschutz-Richtlinie). Die EU ist beauftragt, die Schutzgewähr durch die Mitgliedstaaten zu koordinieren (Art. 23 UAbs. 2 AEUV). Diesem Zweck dient die Konsularschutz-Richtlinie, die durch Kooperations- und Koordinierungsmaßnahmen die Zusammenarbeit der konsularischen Behörden der Mitgliedstaaten verbessert und so zur Rechtssicherheit beiträgt.

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      Während noch nicht abschließend geklärt ist, ob und unter welchen Voraussetzungen das Völkerrecht einem Staatsangehörigen einen Rechtsanspruch auf diplomatischen Schutz gewährt, begründen Art. 23 AEUV, Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 Buchst. c) AEUV und Art. 46 GRCh europarechtlich ein subjektiv-öffentliches Recht der Unionsbürger auf Inländergleichbehandlung. Dieser Anspruch besteht nur i.R.d. Völkerrechts. Deshalb verpflichtet Art. 23 UAbs. 1 S. 2 AEUV die Mitgliedstaaten, die für den Schutz des Art. 23 AEUV notwendigen internationalen Vereinbarungen zu treffen.

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      Sind die jeweiligen Voraussetzungen erfüllt, genießt jeder Unionsbürger erweiterten diplomatischen und konsularischen Schutz, wenn er sich im Hoheitsgebiet eines Drittstaats aufhält, in dem sein Heimatstaat nicht vertreten ist. Schutzberechtigt ist damit jeder, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der EU besitzt (Art. 9 S. 2 EUV; Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV). Die Unionsbürgerschaft des Art. 20 AEUV entfaltet durch den erweiterten diplomatischen und konsularischen Schutz des Art. 23 AEUV konkrete Wirksamkeit. Der Unionsbürger kann seine Schutzberechtigung durch einen gültigen Reisepass oder Personalausweis nachweisen (Art. 8 Abs. 1 Konsularschutz-Richtlinie). Das Ausweisdokument hat deklaratorische Bedeutung; der Schutzanspruch besteht unabhängig von seinem Vorliegen.

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      Die Konsularschutz-Richtlinie erweitert den Anspruch auf Familienangehörige von Unionsbürgern, die nicht die Unionsbürgerschaft besitzen und einen Unionsbürger in einem Drittstaat begleiten. Sie erhalten diplomatischen und konsularischen Schutz unter denselben Bedingungen und in demselben Umfang, den das nationale Recht Familienangehörigen von Bürgern des Hilfe leistenden Mitgliedstaats gewährt (Art. 5 Konsularschutz-Richtlinie). Juristische Personen können diplomatischen und konsularischen Schutz nach Art. 23 AEUV begehren, wenn sie die Staatszugehörigkeit eines EU-Mitgliedstaats besitzen.

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      Der in Anspruch genommene Mitgliedstaat hat diplomatischen und konsularischen Schutz unter denselben Bedingungen wie eigenen Staatsangehörigen zu gewähren. Begründet wird ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung (→ Grundrechte: Gleichheitsrechte). Es besteht somit kein Anspruch auf diplomatischen und konsularischen Schutz, der über denjenigen der eigenen Staatsangehörigen hinausgeht. Das Europarecht bestimmt nicht, in welchem Umfang konsularischer und diplomatischer Schutz zu gewähren ist. Art. 23 AEUV begründet keine Regelungskompetenz der EU. Der konkrete Schutzumfang richtet sich vielmehr nach dem nationalen Recht des jeweiligen Mitgliedstaats. Ob der Schutzanspruch gerichtlich überprüft werden kann, bestimmt ebenfalls das jeweilige nationale Recht.

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      Unter den Voraussetzungen des Art. 23 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, die Auslandsvertretungen eines anderen Mitgliedstaats in Anspruch zu nehmen. Unterhalten mehrere Mitgliedstaaten eine Auslandsvertretung in einem Drittstaat, hat der Schutzsuchende ein Wahlrecht, an welche Botschaft oder an welches Konsulat er sich wendet. Etwas anderes gilt, wenn Mitgliedstaaten eine ständige gegenseitige Vertretung vereinbart haben (Art. 7 Abs. 2 Konsularschutz-Richtlinie). Die Ausübung des Wahlrechts kann sich auf den Umfang des zu gewährenden Schutzes auswirken, da sich dieser nach dem jeweiligen nationalen Recht des in Anspruch genommenen Mitgliedstaats richtet.

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      Gem. Art. 23 UAbs. 1 S. 2 AEUV treffen die Mitgliedstaaten die notwendigen Vorkehrungen und leiten die für den Schutz des Art. 23