Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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hauptsächlichem Gesprächspartner des Chors bildet die Gestalt des Prot­agonisten das eigentliche inhaltlich-thematische Zentrum der chorischen Aussagen: Sein aktuelles Schicksal und der jeweilige Grad seiner Präsenz sind in geradezu monothematischer Ausrichtung Gegenstand aller lyrischen Partien. Während die Choreuten dabei in den dialogischen Partien, d.h. im Besonderen im direkten Austausch mit Neoptolemos und dem Prot­agonisten selbst eine als pragmatisch zu beschreibende Haltung gegenüber Philoktet an den Tag legen, dominiert in den rein chorischen Passagen (v.a. im zweiten Strophenpaar der Par­odos v. 169ff. sowie im Stasimon 676ff.) ein emotionaler Zugang, der im Besonderen das Moment des Mitleids und Bejammerns betont.

      In ihrer thematischen Ausrichtung auf den Prot­agonisten sind die chorischen Passagen immer punktgenau im dramatischen Geschehen zu verorten. Sie bedienen sich dabei im Wesentlichen imaginierender Reflexionsstrategien: Im Vordergrund steht jeweils die möglichst anschauliche Darstellung der Situation des Prot­agonisten sowie einzelner Details (v.a. die Einsamkeit des Haupthelden sowie die Schwierigkeit der Nahrungsversorgung), die – über das ganze Stück betrachtet – geradezu leitmotivischen Charakter tragen.

      Die geradezu exklusive thematische Zentrierung der chorischen Reflexion auf den Prot­agonisten und die jeweilige dramatische Situation bringt eine besondere Verengung der Perspektive und die Ausblendung einiger mit der Handlung assoziierter Momente mit sich: So kommt innerhalb der chorischen Reflexion weder der Vorgeschichte der Handlung (konkret: der Aussendung der Mission nach Lemnos, dem Helenos-Orakel oder gar den Ursachen für Phil­oktets Leiden) noch der moralischen Dimension der intendierten Intrige oder auch der Zielsetzung des Unternehmens, d.h. der Einnahme Troias, sowie der Bogen-Mann-Problematik besondere Bedeutung zu.1 Die Einblendung anderer Zeitebenen ist dementsprechend kein strukturelles Moment der chorischen Reflexion;2 auch die das eigentliche Geschehen subtil konterkarierende zeitliche Verortung des entworfenen Panoramas innerhalb des Stasimons dient dabei der Ausleuchtung des dramatischen „Hier und Jetzt“, das seinerseits als mittlerweile überwundene Stufe ausgedeutet wird und damit als Ausgangspunkt einer allenfalls angedeuteten Zukunftsaussicht fungiert.

      Auch hinsichtlich des personellen Rahmens bieten die Chorpartien keine Weitung des Bezugsrahmens: Einzig Anfang und Ende des Stasimons mit ihrer mythischen Parallele (Ixion) sowie der Erwähnung des Herakles greifen über das eng umrissene Personenspektrum der bis zum Zeitpunkt des Liedes unmittelbar mit der Handlung in Zusammenhang stehenden Gestalten aus. Während Ixions Beispiel dramaturgisch nicht funktionalisiert wird, steht Herakles freilich in engem Zusammenhang mit dem Geschehen.3

      3. Bis auf das einzige Stasimon sind alle Chorpassagen der vorliegenden Tragödie entweder dezidiert als Beitrag eines Austauschs mit einem der Akteure funktionalisiert oder in einen derartigen Unterredungskontext eingepasst (v.a. zweites Strophenpaar der Par­odos). Sowohl die eigentlichen Amoibaia bzw. epirrhematischen Partien als auch die in den Lauf des Bühnengesprächs eingesetzten Strophen des Chors verstehen sich so bewusst als Bestandteil der Handlung und des dramatischen Fortschritts, auch wenn, wie im Fall der Par­odos, genuin reflektorische Partien enthalten sind.

      Auf die regelmäßige Einschaltung chorlyrischer Stasima, wie sie den Ablauf anderer Tragödien maßgeblich prägen, verzichtet Sophokles im vorliegenden Stück dabei bewusst. Indem er die geradezu standardisierte Form chorischer Präsenz auf ein Mindestmaß reduziert, macht er die eigentlich konventionelle Situation des alleine auf der Bühne reflektierenden Chors zu einem besonderen Moment im Ablauf der Tragödie. Dieser Einmaligkeit des Stasimons wird durch die ihm eigene, in mehrfacher Hinsicht gebrochene Beziehung der Reflexion zur Handlung besondere Brisanz verliehen.

      Die chorische Stimme ist so weitestgehend dramatisiert, d.h. in den Austausch der Personen eingebunden und als eine Stimme unter anderen klar funktionalisiert.

      4. Welche genuin dramaturgischen Implikationen ergeben sich nun aus dieser Funktionalisierung der Chorpassagen (Spektrum III)? Einen umfassenden Reflexionsrahmen, in den das Geschehen eingeordnet würde, bietet die chorische Reflexion nicht. Zwar setzt der Chor im zweiten Strophenpaar der Par­odos Philoktets Schicksal in Beziehung zur allgemeinen Verfasstheit des menschlichen Lebens (v. 177ff.) und beginnt das Stasimon mit einem mythischen Vergleich, der die Schwere des dem Haupthelden zugefallenen Schicksals herausstellen soll; diesen Verweisen kommt allerdings keine ausgreifende strukturelle oder thematische Bedeutung zu: So bleibt die kurze Apostrophierung der „Menschengeschlechter“ in Vers 178 einzig ein Ausruf innerhalb der Imagination der Lebensumstände des Prot­agonisten, der Verweis auf Ixion zu Beginn des Stasimons dient nur als Kontrastfolie und spielt für den Fortgang des Liedes keine Rolle. Eine Auseinandersetzung mit den der Handlung zu Grunde liegenden Wirkmechanismen oder mit den durch sie aufgeworfenen Problemen (so z.B. das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum, Fragen nach dem Wert der Pflichterfüllung, der Instrumentalisierung anderer, des Konflikts von Veranlagung des Einzelnen und Anspruch der Gemeinschaft) werden nicht behandelt. Anders gesagt: Der Chor deutet das Geschehen nicht aus, er interpretiert es nicht und unterlegt es keinem größeren Sinnzusammenhang. Dementsprechend beansprucht der Chor auch keine besondere Autorität bei seinen Äußerungen: Weder intendiert er, allgemeine Wahrheiten vorzutragen, noch aus einer dem Geschehen enthobenen Position ein Gesamtbild der mit der Handlung assoziierten Momente zu liefern.

      Im Ganzen lässt sich festhalten, dass der Chor des Philoktet im besonderen Maß an der Handlung teilnimmt und sich als in das Geschehen eingebunden versteht. Die chorischen Partien dienen dementsprechend weniger der Ausdeutung und Kontextualisierung der Geschehnisse, sondern nehmen wiederholt den Haupthelden in den Blick, fokussieren also auf ein entscheidendes Moment der Handlung. Der weitgehende Verzicht auf eine Strukturierung der Tragödie durch regelmäßig eingeschaltete reine Chorpartien garantiert dem Stück im Ganzen einen durchgängigen Handlungsfluss, in den der Chor sowohl hinsichtlich seiner Person als auch der von ihm getätigten Äußerungen eingewoben ist. Einzig für die Dauer des Stasimons wird das Voranschreiten der Handlung kurzzeitig angehalten und das dramatische Tempo gedrosselt – um sich im direkten Anschluss mit dem Krankheitsausbruch des Haupthelden mit ungeahnter Dynamik wieder zu beschleunigen.

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