Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Geschehen selbst motivierten, Endpunkt.

      Dabei entsprang die Belebung des zur Ruhe gekommenen Bühnengeschehens in Vers 1169 der Initiative des Prot­agonisten, d.h. sie erwuchs aus der lyrischen Partie selbst. Nicht die Einschaltung eines weiteren Akteurs leitete nach dem statischen und wenig handlungsintensiven Passus der Verse 1081–1168 zum eigentlichen Fortgang der Handlung über,15 sondern die dem Impetus Philoktets entspringende Wendung zum Chor sowie die damit einhergehenden Aufforderungen zum Abtritt bzw. Bleiben. Philoktet dominiert so erneut die lyrische Passage, die durch sein Sprechen und Handeln zu einer besonders dynamischen und betont brisanten Liminalszene wird.

      Die motivische Bündelung an unserer Stelle entfaltet erneut ein Panorama der Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit Philoktets und erlaubt so einen letzten ausführlichen Blick auf die Lebensumstände und die vermeintliche Zukunft des Haupthelden.

      Beim Blick auf die Binnenstruktur der chorischen Partien innerhalb der Tragödie fällt ein besonderes Moment der Kompositionsabsicht ins Auge: Die vorliegende letzte Chorpartie des Dramas korrespondiert hinsichtlich der Gesprächssituation und Thematik in besonderer Weise mit der Par­odos als der ersten chorischen Passage und beantwortet sie als deren Gegenstück. Unterhielten sich nach dem Prolog des Dramas die Schiffsleute mit Neoptolemos über Philoktet, seine Lebensumstände und sein Schicksal, so ist hier der Prot­agonist selbst Gesprächspartner und zugleich inhaltlicher Hauptbezugspunkt. Die Rollenverteilung zwischen Chor und Akteur ist dabei geradezu vertauscht: In der Par­odos waren die Aussagen des Chors von Mitleid und Anteilnahme geprägt, während Neoptolemos versuchte, durch das Aufzeigen konkreter Handlungsempfehlungen und den Verweis auf das göttliche Wirken in Philoktets Schicksal eine abgeklärtere Position einzunehmen. Die Dominanz des Chors und seiner emotionalen Ausleuchtung war dabei gerade durch das eingeschobene rein chorische Strophenpaar (v. 169–190) offensichtlich, entfielen doch von den über 80 Versen der Passage nur rund 24 auf Neoptolemos. An unserer Stelle nun ist es der Prot­agonist, d.h. der dem Chor gegenüberstehende Akteur, dessen emotional aufgeladenes Selbstmitleid mit der zur Mäßigung ratenden Einordnung des Chors kontrastiert. Dementsprechend überwiegt hier, wie oben schon bemerkt, der Redeanteil Philoktets deutlich.

      Ein weiterer Vergleichspunkt bietet sich an: In der Par­odos stand das Auftreten des Prot­agonisten unmittelbar bevor und wurde besonders von den Choreuten mit einer Mischung aus Angst, Mitleid und einer Art von Neugierde bzw. Schaulust erwartet. Das Herannahen der Schritte belebte dabei die ausgreifende Reflexion im Mittelteil der Passage in Vers 201ff., worauf das Rufen Philoktets seinen Auftritt in greifbare Nähe rücken ließ. Das vernehmliche ἰὼ ξένοι (v. 219) beendete schließlich die Par­odos und damit das Gespräch zwischen Neoptolemos und seinen Schiffsleuten. Die Par­odos bereitete so den Auftritt des Prot­agonisten und damit den Beginn der im Prolog intendierten Intrigenhandlung vor. Ihre ‚Stretta‘ ab Vers 201 ließ sie dabei zu einer geradezu gedoppelten Liminalszene werden: Nicht nur wurde zu Beginn der Partie der Auftritt des Chors ereignis- und effektvoll in Szene gesetzt, ihren eigentlichen Kulminationspunkt fand sie im Erscheinen des Prot­agonisten.

      Der Kommos an unserer Stelle spielt erneut mit der Bühnenpräsenz des Prot­agonisten: Nachdem der Auftritt des Odysseus in der vorangegangenen Szene der dominierenden Präsenz Philoktets einen natürlichen Widerpart entgegensetzte, ist die lyrische Partie, wie gesehen, ganz von Philoktet bestimmt. Sein Abtritt ist der effektvolle Schlusspunkt der lyrischen Passage, die damit die ausgreifende und ununterbrochene Szene schließt, die mit dem Erwachen des Haupthelden v. 865 begonnen hatte.16

      Die durchgehende Lyrisierung der Partie (in der Par­odos kamen Neoptolemos bis auf die kurzen Beiträge im abschließenden Strophenpaar nur anapästische Verse zu) unterstreicht dabei die gesteigerte Emotionalität und Brisanz.

      Aus der Perspektive des mit dem Mythos in Grundzügen vertrauten Zuschauers bildet der Kommos die spannungsreiche Einleitung der Schlusspartie des Stücks. So ist mit dem Abtritt des Prot­agonisten die Handlung zu einem Ruhepunkt gelangt, der allerdings nicht das Ende der Tragödie darstellen kann: Letztlich – so das Vorwissen des informierten Betrachters – wird Philoktet doch mit nach Troia fahren und dort seinen Beitrag zur Einnahme der Stadt leisten. Wie allerdings die Situation innerhalb der Tragödie aufgelöst werden kann, ist nach der umfangreichen lyrischen Partie nicht abzusehen. Eine Versöhnung des Haupthelden mit Odysseus scheidet nach der im Kommos deutlich herausgestellten Verbitterung Philoktets jedenfalls aus. Sophokles forciert so an unserer Stelle gerade durch den scheinbar endgültigen Abtritt des Prot­agonisten den Fortgang der Handlung. Eine weitere grundlegende dramaturgische Funktion der umfangreichen und sowohl formal wie auch emotional herausragenden lyrischen Partie ist damit bestimmt: Sie fordert die Erwartungshaltung des Publikums in besonderem Maß heraus. Was zunächst geradezu als lyrisches Anhängsel an die vorangegangene Szene wirkte, wird so zur effektvollen und spannungsreichen Einleitung der Schlusspartie der Tragödie.

      Exodos (v. 1222–1471)

      Bis auf die zu einem gewissen Grad standardisiert zu nennenden Schlussverse der Tragödie (v. 1469–1471) meldet sich der Chor bzw. der Chorführer in der letzten Szene des Stückes nicht mehr zu Wort. Diese signifikante Zurückhaltung erstaunt zunächst, war doch der Chor im bisherigen Verlauf der Tragödie beständiger Gesprächspartner in groß komponierten lyrischen Dialogszenen (Par­odos, Austausch mit Neoptolemos im „Schlaflied“, Kommos mit Philoktet) und auch in den Sprechpartien durch kommentierende Einschätzungen präsent (so z.B. v. 317f., 522f., 1045f.). Das erste Epeis­odion hatte zudem gezeigt, wie sogar lyrische Partien in den Handlungsablauf integriert werden können. Die Schlusspartie der Tragödie spielt sich nun ganz ohne die Einschaltung des Chors ab. Wie lässt sich dieser bewusste Verzicht auf jegliche chorische Einschaltung gerade aus dramaturgischen Gesichtspunkten nachvollziehen?

      Machen wir dazu die folgenden Punkte klar: Die Exodos der vorliegenden Tragödie ist von ausgreifender Länge (rund 250 Verse) und dabei durch das Auf- und Abtreten der Akteure in sich gegliedert (Auftritt von Neoptolemos und Odysseus v. 1222, Abtritt bzw. Verbergen des Odysseus v. 1258, Auftritt Philoktet v. 1263, Wiederauftritt Odysseus v. 1293, Abtritt desselben v. 1298, Erscheinen des Herakles v. 1409). Die Handlung ist dabei von unerwarteten Umschwüngen und erheblicher Brisanz geprägt: Nachdem Odysseus von Neoptolemosʼ Absicht gehört hat, Philoktet den Bogen zurückzugeben, droht er mit Waffengewalt, was Neoptolemos erwidert (v. 1254ff.). Philoktets Wiedererscheinen steht in Kontrast zu seinem als endgültig inszenierten Abgang am Ende des Kommos und gipfelt in der offenen Auseinandersetzung mit dem mittlerweile wieder auf der Bühne präsenten Odysseus (v. 1299ff.). Auch hier droht die Situation zu eskalieren: Die Androhung Philoktets, Odysseus mit einem Pfeil zu töten, präsentiert den Prot­agonisten in wiedererlangter Stärke. Die Kräfteverhältnisse zwischen ihm und Odysseus sind mit Blick auf die Fesselungsszene (v. 1003ff.) gerade entgegengesetzt. Der Bedrohte entzieht sich der Situation durch Flucht. Mit Neoptolemosʼ Monolog (v. 1314–1347) und der Antwort des Prot­agonisten (v. 1348–1372) kehrt vorübergehend etwas Ruhe ein. Das anschließende stichomythische Wechselgespräch der beiden (v. 1380–1392) und der Austausch in trochaeischen Tetrametern v. 1402–1408 beleben die Szenerie erneut und entwickeln eine besondere dramatische Sogwirkung: Das Ende der Handlung steht nun endgültig bevor, nachdem Odysseus seinen Einfluss auf Philoktet und Neo­ptolemos gänzlich verloren zu haben scheint. Die Erscheinung des Herakles schließlich ist geradezu die Überbietung der an Wendungen und Umschwüngen reichen Schlussszene: Erst durch die Epiphanie des Halbgottes kommt das Bühnengeschehen endgültig zur Ruhe, die klaren Anweisungen ordnen das weitere Vorgehen, deuten die Handlung abschließend und geben einen Ausblick auf die kommenden Geschehnisse um Troia.

      Das Bühnengeschehen innerhalb der Exodos ist, wie gesehen, von einiger Aktion geprägt und entfaltet durch seine unerwarteten Wendungen eine besonders mitreißende Dynamik. Das Fehlen chorischer Äußerungen unterstreicht dabei ein besonderes Moment der dramatischen Gestaltung: Die aktionsreiche Darstellung lässt schlichtweg keine Zeit für eine reflektierende oder auch nur motivisch vertiefende Anmerkung des Chors, der in das eigentliche Handlungsgeschehen sowieso nicht mehr eingebunden ist. Anders stellte sich die Situation noch zu Beginn der Tragödie dar, als die Mithilfe der Schiffsleute bei der Täuschung des Haupthelden ein wirklicher Bestandteil der Handlung war. Im Schlussteil der Tragödie dagegen entwickelt sich die Handlung