Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Philoktets Herbeischaffung habe das Orakel gefordert, ihm gelte der Siegeskranz; überhaupt sei es schwere Schmach, sich einer mit Lügen ausgeführten und letztlich erfolglosen Mission zu rühmen.

      Machen wir uns an diesem Punkt bewusst: Der inhaltliche Fokus des Liedes und des daraus hervorgegangenen Austauschs zwischen Chor und Akteur hat sich im Lauf der Strophe auf eine andere Ebene verlagert. Nicht mehr das Leid des Prot­agonisten und die Möglichkeit, es zu lindern, stehen im Mittelpunkt. Vielmehr erfährt die gegenwärtige Lage Philoktets ihre polarisierende Ausdeutung im Kontext der Intrigensituation: Indem der Chor zwar äußerst ambivalent,6 für seinen Gesprächspartner aber durchaus verständlich, zum sofortigen Einschreiten auffordert, füllt er die entstandene Pause im Handlungsablauf mit ungeahnter Dynamik. Der Kontrast zwischen der Anrufung des Schlafs und der unerwarteten Gesprächsaufnahme mit Neoptolemos macht dabei den Wechsel der Fokussierung besonders deutlich.

      Die in der ersten Strophe virulente Zweiteilung der Blickrichtung – einmal auf den Prot­agonisten und seinen Zustand, einmal auf Neoptolemos und die sich aus der Situation für ihn ergebenden Konsequenzen – prägt auch den Fortgang des Liedes. Während sich Neoptolemos selbst nicht mehr zu Wort meldet und erst in Vers 865 dem Chor Stille gebietet, entfalten die Schiffsleute ihre Ausdeutung der momentanen Situation als selbstbewusste Handlungsempfehlung an ihren Herrn. So legen sie ihm in ausgesuchter Ambivalenz nahe, die nun eingetretene Gelegenheit beim Schopf zu packen und zu seinen Gunsten zu nutzen. Ein kurzer Überblick über die beiden folgenden Strophen soll dies verdeutlichen.

      Den Bedenken des Neoptolemos hinsichtlich der durch den Orakelspruch geforderten Mitwirkung Philoktets an der Einnahme Troias tritt der Chor pragmatisch entgegen: Danach werde Gott selbst sehen (τάδε μὲν θεὸς ὄψεται v. 843). Ihr Herr solle im Moment, so die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 844ff., nur leise antworten, da der Schlaf von Kranken „scharfblickend“ (εὐδρακὴς λεύσσειν) sei und so – implizit gesagt – die Gefahr bestehe, von Philoktet gehört zu werden. Weiterhin solle Neoptolemos genau Acht geben (ἐξιδοῦ v. 851), dass er das angedeutete Unternehmen (κεῖνο) in aller Heimlichkeit ausführe; wenn er dagegen an seiner Meinung festhalte,7 könne man als verständiger Beobachter schon jetzt schwierige und ausweglose Ereignisse (ἄπορα πάθη) voraussehen.

      Gegen diese negative Zukunftsaussicht setzt die Epode mit Vers 855 einen erneut auffordernden Blick auf die aktuelle Gegenwart: Für Neoptolemos sei jetzt eine günstige Gelegenheit (οὖρος) eingetreten, da Philoktet gleich einem Toten ohne Macht über seinen eigenen Körper hingestreckt sei. Ein erneutes ὅρα (v. 862 vgl. v. 833) eröffnet eine letzte Aufforderung an Neoptolemos: Er solle zusehen, ob er der Situation angemessene Dinge spreche (καίρια φθέγγῃ); die Vorgehensweise mit der größten Aussicht auf Erfolg sei aus Sicht der Choreuten – bemerkenswert das betonte ἐμᾷ φροντίδι v. 864 – ein furchtloses Handeln (πόνος μὴ φοβῶν κράτιστος).

      Die sorgfältige sprachlich-motivische Gestaltung der Chorpassage soll hier nicht unerwähnt bleiben.8 Zwei Aspekte treten dabei besonders deutlich hervor.

      Zum ersten: Wie schon erwähnt, prägt der gedoppelte Blick auf Philoktet und Neoptolemos die gesamte Partie.9 Wiederkehrendes und geradezu gliederndes Moment sind dabei die Anreden an Neoptolemos sowie die begriffliche Thematisierung des Schlafs, an deren gegenseitigem Wechselspiel innerhalb des Liedes die spezielle Perspektive des Chors auf die Situation verdeutlicht werden kann: Unterbricht der Vokativ (ὦ) τέκνον v. 833 in der ersten Strophe den durch das verdoppelte Ὕπνε volltönend begonnenen Invokationshymnos, so nimmt diese vertraute Anrede auch in den beiden folgenden Strophen prominente Stellungen ein. Sie eröffnet die Gegenstrophe (v. 843) und markiert so die bewusste Antwort auf Philoktets Einwand, wird in Vers 845 zur Intensivierung der Aufforderung nach gedämpfter Lautstärke wiederholt und steht erneut am Beginn der Epode v. 855, um dem Angesprochenen die günstige Lage geradezu plastisch vor Augen zu führen οὖρός τοι, τέκνον, οὖρος. Wenn der Chor am Schluss des Liedes (v. 864) seinen Herrn mit παῖ anspricht, so lässt diese Variation aufmerken und macht den besonderen Nachdruck der vom Chor vorgebrachten Empfehlung erfahrbar. Die p-Alliteration des Vokativs mit dem aus Vers 835 übernommenen φροντίδος und dem folgenden πόνος ist dabei ein starkes Mittel, das der Passage erneut Nachdruck verleiht; anders gesagt: Die in der ersten Strophe aufgeworfenen Fragen an Neoptolemos, v.a. πῶς δέ σοι τἀντεῦθεν φροντίδος v. 834, sind hier am Ende der Passage aus Sicht des Chors trotz aller Ambivalenz deutlich und unmissverständlich beantwortet.

      Demgegenüber erfährt der Schlaf als Gegenpol des chorischen Fokus im Lauf des Liedes je verschiedene Ausdeutungen: War er als Gottheit am Beginn der ersten Strophe noch Heiler und erbetener Wohltäter – mithin eine mit positiven Attributen versehene, personifizierte Abstraktion –, so thematisiert die Gegenstrophe die Gefahr, die der konkrete und „scharfblickende“ Schlaf des kranken Philoktet für Neoptolemos und den Chor in sich birgt: das Mithören der Intrigenpläne, bzw. genauer das Sehen (λεύσσειν) der wirklichen Gegebenheiten. Die Epode setzt dagegen ein anderes Bild: Der im Schlaf Hingesunkene gleicht in seiner Ohnmacht und Wahrnehmungslosigkeit einem Toten. Dieser Zustand, der dem Prot­agonisten jeden Kontakt zur und jede Interaktion mit der umge­benden Realität unmöglich macht, steht dabei in scharfem Kontrast zum ὕπνος ἄυπνος (v. 848) der Gegenstrophe, nimmt aber zugleich Begrifflichkeit und Inhalt der ersten Strophe wieder auf und erweitert das dort gezeichnete Bild. So bezeichnet ἀνόμματος (v. 856) eben jenen Zustand, den die Bitte in den Versen 830ff. herbeigesehnt hatte: War dort geradezu aus der Innenperspektive Philoktets von der αἴγλη – „dream light“ – die Rede, die den Augen des Helden vorgehalten werden sollte (ὄμμασι δʼ ἀντίσχοις), so verbalisiert nun νύχιος (v. 857) den augenscheinlichen Eindruck, den der Schlafende bei Betrachtern hervorruft. Dass in beiden Fällen die identische Form von (ἐκ)τείνω (τέταται v. 831, ἐκτέταται v. 857) verwendet wird, macht die Bezugnahme umso deutlicher.10

      Herausragende Aufmerksamkeit verdient zum zweiten der konsequent absichtsvolle Gebrauch des Begriffsfelds „Sehen“ innerhalb der Passage. Die Polarität des gedoppelten Blicks auf Philoktet und Neoptolemos tritt hier besonders hervor: Während der Schlaf Philoktet gerade seine Sehkraft nehmen bzw. einschränken soll (v. 830f.) und der so versunkene Held schließlich ἀνόμματος (v. 856) genannt wird, bedient sich der Chor in den Aufforderungen an Neoptolemos dezidiert der Begrifflichkeiten des Sehens und Hinschauens. So leitet der Imperativ ὅρα (v. 833) die dreigliedrige Frage nach Standpunkt und weiterem Vorgehen ein, ἐξιδοῦ (v. 851) fordert zum verborgenen Handeln auf, und ein erneutes ὅρα (v. 862) – diesmal durch βλέπ(ε) gesteigert11 – mahnt zu situationsangepasstem Sprechen. Dementsprechend versichert Neoptolemos den Chor in seiner Antwort, er „sehe“ (ὁρῶ v. 839), dass eine Abfahrt ohne Philoktet dem Orakelspruch widerspreche, wohingegen dessen leichter Schlaf in der Formulierung der Schiffsleute gerade auf Grund des „scharfblickenden Sehens“ (εὐδρακὴς λεύσσειν v. 847f.) eine Gefährdung der vertrauten Gesprächssituation darstellt. Schließlich verbalisiert das futurische ὄψεται (v. 843) die in Aussicht gestellte göttliche Fürsorge um die konkrete Erfüllung der Prophezeiung, während die vom Chor antizipierten ἄπορα πάθη als im wahrsten Sinne „voraussehbar“ (ἐνιδεῖν v. 854) bezeichnet werden.12

      Neoptolemosʼ Aufforderung in Vers 865, nun angesichts der wahrnehmbaren Bewegungen Philoktets Stille zu halten, bringt das Lied zu einem entschiedenen Ende. Der Prot­agonist erwacht und begrüßt sogleich das Licht; sein Monolog (v. 867–881) nimmt daraufhin nach einem Dank an Neoptolemos konkret die Fortführung der Handlung, d.h. den Aufbruch zum Schiff in den Blick (v. 877). Vom verklungenen Chorlied hat Philoktet indes nichts wahrgenommen. Die darin erreichte Zuspitzung der Situation bildet in dieser Hinsicht eine Grundierung, auf der sich gerade das Lob, das der Prot­agonist Neoptolemos und seiner wohlgearteten Natur (εὐγενὴς φύσις v. 874) entgegenbringt, umso kontrastreicher abhebt. Anders gesagt: Wurde in der chorischen Partie der Fokus dezidiert auf Neoptolemos und seine