Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Vers 827 die Krankheitssituation nur wenig beeinflussen.

      Halten wir fest: Die geradezu standardisierte Funktion eines Stasimons, die einbrechende Katastrophe bzw. Wendung auf der Folie einer positiven Zukunftsaussicht umso greller hervortreten zu lassen,40 ist an unserer Stelle meisterhaft erreicht: Das Stasimon forciert den Wendepunkt innerhalb der Tragödie, untergräbt allerdings mit einer eigenen sinnstiftenden Zeitverortung des Geschehens das eigentliche Handlungsgefüge. Die Kontrastierung der unterschiedlichen Bildwelten und Emotionen am Ende des Stasimons (Heimkehr und Größe Philoktets, Vergöttlichung des Herakles) und am Beginn der folgenden Szene (Ausgeliefertsein des Helden an Krankheit, Leiden und Schmerz sowie generelle Hilflosigkeit) potenziert dabei geradezu ihre Wirkung, da die positive Stimmung der Schlussstrophe gerade aus der Negierung just dessen gewonnen wurde, was das folgende Epeis­odion inszeniert. Aus einem „nicht mehr“ wird so ein überdeutliches „jetzt gerade“. Das Zeitgefüge der chorischen Reflexion ist damit gebrochen: Die dramatische Realität pervertiert das vom Chor entworfene Deutungsschema, so wie das Lied in seinem Blick in die Vergangenheit bereits die Handlung selbst umgedeutet hatte. Man mag in diesem Zusammenhang von einer geradezu doppelten Pervertierung sprechen.

      Im bewussten Auseinanderfallen der dramatischen Sachlage sowie der chorischen Deutung liegt – wenn man sich von anderen Deutungsversuchen distanziert und zudem versucht, den Text des Liedes ohne parallel einhergehendes Bühnengeschehen (Auftritt oder Erscheinen der Akteure41) als chorische Ausdeutung zu lesen42 – die Spannung des Stasimons und letztlich seine dramaturgische Absicht. Es fügt sich nicht in die Erwartungen des Publikums, sondern konterkariert diese bewusst. Die (antiken) Zuschauer werden sich der vorliegenden Ambivalenz und der doppelten Pervertierung bewusst gewesen sein. Geht man neben einer zumindest rudimentären Informiertheit über die Grundstrukturen des dramatisch verarbeiteten Mythos von einer gewissen Vertrautheit mit den basalen Techniken der (sophokleischen) Tragödie, ihren Formteilen und deren genregemäßem Einsatz aus, dann wird man die (freilich unbewiesene und wohl auch unbeweisbare) Hypothese aufstellen dürfen, der Zuschauer im Theater habe ahnen oder gar wissen können: Je positiver der Chor in einer kritischen bzw. ambivalenten Situation die Zukunft zeichnet, desto näher, umfassender und katastrophaler ist die meist im direkten Anschluss folgende Wende. In anderen Worten: Die augenscheinliche Differenz zwischen Bühnenhandlung und chorischer Ausdeutung erlaubt an unserer Stelle einen Blick hinter die dramatische Fiktion – die dennoch nicht aufgehoben ist – und lässt gerade einen informierten bzw. vertrauten Zuschauer die dramaturgische Funktion und den weiteren Fortgang des Bühnengeschehens erkennen.43

      Mit diesem Deutungsversuch nehme ich eine mögliche Inkonsequenz innerhalb der Charakterisierung des Chors hinsichtlich seiner Stellung innerhalb der Intrige bewusst in Kauf. Ich stimme in diesem Punkt allerdings ganz BURTON zu, der im Bezug auf „Sophoclesʼ habit of using his choruses as an instrument with which to guide the mind and emotions of his audience in any direction required by the immediate dramatic context“44 anmerkt:

      This role of the chorus leads in occasion to inconsistencies between parts of the same song and between one song and another which can only be explained if we always remember the presence of an audience whose thoughts and feelings have to be engaged and directed.45

      Dass das Publikum an einer so motivierten Inkonsistenz Anstoß genommen haben könnte, erscheint mir dabei zweifelhaft.

      An der grundsätzlichen Einbindung des Chors als Rolle innerhalb des Dramas will diese Ausleuchtung dagegen in keiner Weise rütteln.46 Will man das Verhalten des Chors, genauer: das der Matrosen des Neoptolemos erklären, so wird man sich am besten MÜLLER47 anschließen und von einem Irrtum, d.h. einer falschen Einschätzung der Lage, ausgehen. Diese Anschauung bleibt allerdings für sich gesehen unbefriedigend; die funktionellen, d.h. publikumswirksamen Konsequenzen dieses Irrtums kann erst eine genuin dramaturgische Betrachtung wie die hier vorgelegte erweisen.

      Bis zur Hälfte der Tragödie hat Sophokles bereits ein reiches Panorama unterschiedlicher Formen chorischer Präsenz zum Einsatz gebracht: die dialogische Par­odos mit anapästischen Einschüben des Neoptolemos und umrahmter Kurzode, die korrespondierenden Strophen innerhalb des ersten Epeis­odions sowie das traditionelle Standlied des Chors auf leerer Bühne.

      Während dabei die Par­odos als dialogische Szene unter Dauerpräsenz des Neoptolemos und die in das erste Epeis­odion eingestreuten Strophen sich in den dramatischen Fluss eingeordnet haben, fügt Sophokles an unserer Stelle eine bewusste Pause innerhalb der Handlung ein. Das Stasimon kommt dabei zwischen zwei äußerst dynamischen Szenen zu stehen: Während das vergangene Epeis­odion die Annäherung zwischen Neoptolemos und Philoktet unter struktureller Präsenz des Chors inszenierte und die entscheidende Verschärfung der dramatischen Brisanz in Form eines außerszenischen Impulses verwirklichte, wird der kommende Auftritt der Akteure die bisher drastischste Szene der Tragödie darstellen.

      Es hat sich bei der Behandlung des Liedes gezeigt, dass Sophokles durchaus standardisierte strukturelle Eigenschaften und Motive eines Stasimons zur Anwendung bringt, die vereinfachend zusammengefasst werden können: Bezug zur Par­odos unter Verschiebung der Perspektive; damit einhergehende Intensivierung und gesteigerte Drastik der Motivik, was den dramatischen Handlungsfortschritt abbildet; der unmittelbaren Handlung scheinbar abgelöste Beginn- und Schlussmotivik, dazwischen die ausgreifende Konkretisierung dramatischer Vergangenheit; positive Zukunftsaussicht unmittelbar vor dem Einbrechen der entscheidenden Wende. Die Singularität des Liedes verleiht dabei gerade diesen Strukturmerkmalen die entscheidende Wirkung: Indem die Reflexion des Chors hier zum ersten und einzigen Mal unter Rückgriff auf den bekannten Formenschatz des Stasimons erfolgt, ist die standardisierte Art chorischer Präsenz innerhalb der Tragödie zu einem einmaligen Ereignis geworden. Es konnte dabei gezeigt werden, dass die Verwendung der aufgezählten Merkmale des Stasimons an unserer Stelle durch ihre Einpassung in den dramatischen Kontext und ihre spannungsvolle Bezugnahme aufeinander (v.a. die doppelte Pervertierung innerhalb des Zeitgefüges) eine virulente dramaturgische Funktion erfüllt, die die Aufmerksamkeit des Publikums in besonderer Weise herausfordert.48

      (Schlaf-)Lied (v. 827–864)

      Kommen wir zum zweiten Epeis­odion, das bereits mit dem Wiederauftritt der beiden Akteure einen effektvollen Akzent setzt. Auf Neoptolemosʼ Aufforderung, die Höhle zu verlassen, antwortet Philoktet zunächst nicht (σιωπᾷς κἀπόπληκτος ἔχῃ v. 731). Seine Schmerzensschreie und Klagen (v. 732, 736, 739) wirken daraufhin als Realisierung des im Stasimon thematisierten „widerhallenden Stöhnens“ (v. 694) und lassen das Publikum wohl bereits den wahren Sachverhalt erahnen: Ihn hat ein akuter und heftiger Krankheitsanfall ergriffen, der eine sofortige Abfahrt mit Neoptolemos unmöglich macht.

      Blicken wir kurz auf die Gliederung und Ausgestaltung der Szene, bevor wir uns der chorischen Äußerung zuwenden. Das emotionale Wechselgespräch der beiden Akteure vollzieht sich zunächst in der Form von Frage und Antwort: Neoptolemos sieht sich zur eigenen Überraschung mit dem leidenden Prot­agonisten konfrontiert und sucht nach einer ersten Vermutung – „Hast du etwa Schmerzen auf Grund der an dich herangetretenen Krankheit?“ (v. 734) – die genauen Gründe für Philoktets Klagen und Jammern zu erfahren. Die Reaktionen des Angesprochenen sind durch ein hohes Maß an Emotionalität und Situativität gekennzeichnet: So scheinen ihm die Schmerzen teils das Reden unmöglich zu machen (so schon v. 731, ebenso 740f.), teils bricht es aus ihm heraus, wobei vor allem die bemerkenswerte Häufung der verschiedenen Interjektionen (ἆ, ἰώ, ἀτταταῖ, παπαῖ, παπᾶ sowie der ganz aus Interjektionen bestehende Vers 746), die drastische und wiederholte Wortwahl (ἀπόλωλα v. 742 und 745, διέρχεται 743f., βρύκομαι 745) sowie die gehäuften (Selbst-)Anrufungen (Philoktet an Neoptolemos: (ὦ) τέκνον v. 733, 742, 745 2x, 747, 753; ὦ παῖ 750, 753; Philoktet über sich selbst: δύστηνος, ὢ τάλας ἐγώ 744; Neoptolemos an Philoktet: δύστηνε σύ, δύστηνε 759f.) die der Situation eigene Drastik, Dynamik und Unmittelbarkeit verbalisieren.

      Neoptolemos steht dem Geschehen zunächst hilflos gegenüber: Nachdem er sich grob über die Situation klargeworden ist, fragt er nach Philoktets Aufforderung, Mitleid zu haben (v. 756),1 nach konkreten Handlungsanweisungen