Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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des Publikums auf den Kern der dramatischen Situation.4

      Halten wir daher fest: Die Aussendung des Kaufmanns durch Odysseus hat ihren innerdramatischen Zweck erfüllt und die beteiligten Akteure in betriebsame Eile versetzt. Dramaturgisch gesehen macht sie die enorme Brisanz der Bühnensituation deutlich: Sie ruft die hinterszenische Präsenz des Odysseus sowie den von ihm intendierten Fortgang der Geschehnisse erneut ins Gedächtnis und bietet die Gelegenheit, in einer motivischen Engführung den Bogen als zentrales Utensil des Intrigenkomplotts (vgl. v. 113) zu inszenieren.5

      Mit dem Abtritt der beiden Akteure nach Vers 676 kommt die dramatische Spannung zu einem vorläufigen und vordergründig harmonischen Ruhepunkt. Die augenfällige Intimität zwischen Neoptolemos und Philoktet schließt den ersten Teil der Intrige und damit der gesamten Handlung: Das Vertrauen des Prot­agonisten ist erlangt, die anfängliche Fremdheit und Unsicherheit im Umgang miteinander ist einem freundschaftlichen Austausch gewichen, dem weiteren Ablauf der Intrige scheint nichts mehr im Wege zu stehen. Seinen sinnfälligen Ausdruck findet der erreichte Status der Handlung in einem bis dahin nicht genutzten Effekt: Zum ersten Mal innerhalb der Tragödie – also seit mittlerweile über 670 Versen – leert sich die Bühne vollständig, worauf der Chor ungestört die dramatische Situation reflektiert.6

      Das Lied entfaltet in zwei Strophenpaaren eine Gesamtschau der bisher entwickelten Handlung, wie sie sich vor den Augen der Choreuten abgespielt hat. Erneut steht dabei die Figur des Prot­agonisten im Mittelpunkt, dessen leidvoller Vergangenheit der Chor eine hoffnungsfrohe Zukunftsaussicht entgegenstellt.

      Das Lied beginnt mit einem sprachlich scharf gezeichneten Kontrast:7 Der Chor habe durch Erzählung (λόγῳ) zwar gehört, jedoch nie mit eigenen Augen gesehen (ὄπωπα δʼ οὐ μάλα), wie Zeus seinen ehemaligen Lagergenossen an einem umlaufenden Rad gefangen hielt (δέσμιον ἔλαβεν). Der mythologische Bezug ist durch die Erwähnung der Einzelheiten – Teilhabe am Lagerplatz der Götter sowie das drehende Rad als Folterinstrument – auch ohne namentliche Nennung des Helden8 klar: Die Rede ist von Ixion, der als Strafe für die missbrauchte Gastfreundschaft des Göttervaters an ein drehendes (Sonnen-)Rad geheftet wurde.9

      Der Bezug zum unmittelbar Vorangegangenen innerhalb der dramatischen Handlung ist dabei an unserer Stelle noch nicht klar,10 das plötzliche mythologische Schlaglicht wirkt überraschend. Dagegen lässt der Hinweis auf die mangelnde Augenzeugenschaft hinsichtlich der Ereignisse um Ixion eine Kontrastierung mit tatsächlich Erlebtem erahnen, zumal die Formulierung des ersten Verses (676) besonderen Nachdruck auf diesen Umstand legt: Das zunächst völlig unbestimmte λόγῳ eröffnet das Stasimon und erweist sich sogleich als genauere Bestimmung des folgenden Prädikats ἐξήκουσα, dem das kontrastierende ὄπωπα direkt folgt. Von besonderem Interesse sind die Tempora der beiden Formen: Drückt der Aorist ἐξήκουσα das (einmalige) Hören der Ixion-Geschichte in der Vergangenheit aus, so forciert das negierte Perfekt ὄπωπα die fehlende Kenntnis aus eigener Erfahrung. Nach der betont an den Schluss der Periode gestellten Subjektsangabe des ὡς-Satzes – παγκρατὴς Κρόνου παῖς – setzt das folgende Perfekt οἶδα den spezifischen Tempusgebrauch des Eingangs fort. In den beiden Partizipien κλυών und ἐσιδών findet zudem die Begrifflichkeit „Hören und Sehen“ aus dem ersten Vers des Liedes eine Fortsetzung. Der Chor konstatiert, er kenne sonst keinen anderen Menschen, der mit einem feindlicheren Los zusammengetroffen sei, als es das Schicksal dieses (τοῦδʼ v. 681) Menschen ist.11 Der sich anschließende Relativsatz klärt den vielleicht zunächst missverständlichen Bezug des Demonstrativpronomens: Der in Rede Stehende hat niemandem etwas zu Leide getan, niemanden getötet, sondern ist als Gleicher unter Gleichen (ἴσος ἐν ἴσοις) so unverdient zu Grunde gegangen (ὤλλυθʼ v. 685). Gemeint ist damit freilich Philoktet, wobei eine Namensnennung, wie schon bei Ixion zu Beginn der Strophe, nicht nötig ist.

      In Analogie zu τοῦδʼ v. 681 sticht auch hier das hinweisende ὧδʼ (v. 685) hervor.12 Es lohnt dazu erneut ein Blick auf den Tempusgebrauch: Der demonstrative Aspekt verbindet sich mit dem Aorist ὤλλυθʼ und schildert so ein Geschehen aus der Vergangenheit. Anders gesagt: Der Chor ist nach dem mythologischen Schlaglicht an unserer Stelle zwar bei Philoktet als der für die Reflexion entscheidenden Person, allerdings explizit (noch) nicht in der dramatischen Gegenwart angekommen; was sich im Folgenden anschließt, versteht sich dezidiert als Blick in die Vergangenheit. Dem entspricht der konsequente Gebrauch der verbalen Vergangenheitsformen (Indikativ der Nebentempora sowie iterative Aoriste) im Folgenden.

      Ein weiteres Demonstrativpronomen markiert den Fortgang der Reflexion: Dieser staunenswerte Umstand (τόδε θαῦμα v. 686) hält den Chor in seinem Bann: Wie nur, so die angeschlossene Frage, konnte Philoktet, der doch ganz alleine das Brausen der Brandung hört, so sein tränenreiches Leben behaupten (κατέσχεν v. 690)? Auch hier gesellt sich zum Demonstrativpronomen τόδε (v. 686) mit οὕτω (v. 689) ein hinweisendes Adverb, das den Blick deutlich auf die geradezu vor Augen liegenden Lebensumstände des Prot­agonisten lenkt. Unter Rückgriff auf den Beginn des Stasimons hat sich bereits hier ein Kreis geschlossen: War dort die fehlende Augenzeugenschaft inhaltlich ein bestimmendes Moment, so macht die Häufung der Demonstrativa an unserer Stelle klar, dass der Chor in Philoktets Fall auf eigene Erfahrung zurückgreifen kann und sich diese unter Verweis auf die Bühnensituation und das eben Erlebte aktuell ins Bewusstsein ruft. Der thematisch-perspektivische Rahmen ist damit abgesteckt: Es folgt ein erneuter Blick auf die Lebensumstände des Prot­agonisten, der unter der Leitmotivik vom Beginn des Stasimons zum Panorama des feindlichen Schicksals (v. 681f.) Philoktets wird, das – und das ist die Besonderheit dieses Liedes – aus Sicht des Chors der Vergangenheit angehört.

      Die Gegenstrophe nimmt dementsprechend Philoktet selbst (αὐτός v. 691) in den Blick und stellt syntaktisch die Fortführung der bereits begonnenen Periode dar: Mit ἵνα (v. 691), „wo“, ist auf das konkrete Umfeld des Helden, seine Umwelt und damit die erlebte Bühnensituation verwiesen. Der ausgreifende Nebensatz präzisiert damit das „tränenreiche Leben“ (v. 659), erfüllt den abstrakten Begriff mit Leben und setzt die demonstrativen Gesten der vorangegangenen Strophe fort.

      Zunächst erfährt Philoktets Einsamkeit (und in Verbindung damit seine furchtbare Krankheit) ihre poetische Ausgestaltung: Der Heros sei alleine gewesen (ἦν) und habe weder Zugang zu einem Nachbarn13 noch einen Einheimischen als Leidensgenossen gehabt, bei dem er seine Krankheit hätte beweinen können. Die konkrete Ausgestaltung dieser Passage ist von herausgehobener und bisher ungekannter Drastik: Folgen wir dem Text von LLOYD-JONES/WILSON (1990), so kommen der Krankheit (νόσον) als dem Gegenstand von Philoktets Klage die Adjektive βαρυβρῶτα und αἱματηρόν – „tief nagend“ und „blutenden“ – zu, während das Stöhnen selbst (στόνον) als ἀντίτυπον – „widerhallend“ – charakterisiert wird.14 Damit ist eine Funktion des nicht vorhandenen Leidensgenossen bestimmt: Er hätte als Gegenüber des gequälten Helden zu dessen Tröstung beitragen können. Damit nicht genug: Die in αἱματηρόν angerissene Blutmotivik erhält im folgenden, mit οὐδʼ ὅς angeschlossenen Relativsatz (v. 696ff.) ihre konkrete Ausgestaltung: Philoktet habe niemanden gehabt, der den aus seinem Fuß hervorbrechenden warmen Blutstrom mit aufgehobenen Blättern hätte stillen können. Das Lied hat hier seinen Höhepunkt an anschaulicher und wortgewaltiger Schilderung gefunden. Dabei ist die Darstellung des Krankheitsanfalls keineswegs Selbstzweck und erschöpft sich nicht in der reinen Wiedergabe möglichst abstoßender Details. Sie ist vielmehr eingebunden in die Einsamkeitsthematik und stellt mit der Schilderung eines Anfalls (σπασμός15 v. 699) den bitteren Alltag des einsamen Helden dar: Als Mittel der äußersten Drastik entwirft der Chor das Bild des einsamen Philoktet, dem nicht nur kein Gesprächspartner zur Verfügung stand, sondern der seinen Krankheitsanfällen hilflos ausgeliefert war.16

      Vom fehlenden Eingreifen eines Nachbarn wendet sich der Blick in Vers 701 wieder auf Philoktet selbst, wobei der Subjektswechsel durch δʼ forciert wird: Der Held kroch hin und her und wandte sich dabei wie ein der Amme entrissenes Kind zu den Plätzen, wo sich auf Grund der Beschaffenheit des Weges Erleichterung einstellte (πόρου εὐμάρεια), sobald