Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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erwarten, wie sie einige Interpreten deshalb auch gefunden haben. Statt dessen reagieren die Seeleute jedoch mit allem Bedacht verstellt!7

      Sicherlich weist SCHMIDT dazu mit Recht auf die „geschraubte Formulierung“ hin, „die, in sich schon zweideutig und vage, durch das ἔοικα noch halb wieder zurückgenommen wird“.8 Ob man allerdings dem Chorführer eine innere Anteilnahme gänzlich absprechen kann, scheint mit Blick auf die Reminiszenz an Vers 169 und der dort ausgedrückten emotionalen Einbindung fraglich. Die durch die Formulierung intendierte Ambivalenz ist zwar offenkundig, lässt sich allerdings aus der dramatischen Situation heraus als ein vorsichtig abwartendes und dennoch strategisch kluges Herantasten an die beherrschende Figur des Prot­agonisten deuten.9 Der Wahrheitsgehalt der Mitleidsbekundung steht dabei zunächst nicht zur Debatte. Anders gesprochen: Die kurze Kommentierung durch den Chor(-führer) bietet den Auftakt für die sich anschließende Unterredung zwischen Philoktet und Neoptolemos und ist zu diesem Zweck so unverfänglich wie möglich.10 Ob dabei einem Gefühl der Anteilnahme Ausdruck verliehen wird oder die Bemerkung als reine Verstellung zu werten ist, bleibt zunächst unbeantwortet, ja wird bewusst in der Schwebe gehalten. Solange die sicherlich intendierte Ambivalenz der Aussage vom Rezipienten wahrgenommen wird und so ihre Wirkung entfaltet, ist eine Diskussion der inneren Beweggründe des Akteurs von geringerer Bedeutung.

      Zunächst sollen die weiteren Äußerungen des Chors innerhalb des Epeis­odions betrachtet werden. Dem kurzen Wechselgespräch der beiden Akteure in den Versen 319–342, in dem der Prot­agonist mit der Nachricht vom Tod des Achill konfrontiert wird, schließt sich die ausführliche Trugrede des Neoptolemos an (v. 343–390). Wortreich schildert er darin seine (angebliche) Kränkung durch Odysseus und die Atriden, die ihm die Waffen seines verstorbenen Vaters vorenthielten. Wirkungsvoll wird dabei die erfundene Situation durch die scheinbar wörtlich wiedergegebenen Reden der Beteiligten (Atriden, Neoptolemos selbst sowie Odysseus) ausgestaltet (v. 364–367, 369f., 372f. und 379–381). Diese heftige Auseinandersetzung, so Neoptolemos, sei der Grund für seine Abreise von Troia gewesen (v. 383). Letztlich mache er jedoch nicht Odysseus, sondern die Atriden für die erlittene Entehrung verantwortlich; deswegen sei ihm selbst und den Göttern jeder willkommen, der den in Rede stehenden Anführern feindlich gesonnen sei (v. 385–390). Dabei bildet diese implizite Verfluchung den Schlusspunkt der Ausführungen, der durch das vorgeschaltete λόγος λέλεκται πᾶς (v. 389) besonders herausgehoben ist. Der über die Intrige informierte Zuschauer und Leser hört den jungen Mann an dieser Stelle geradezu aufseufzen: Er hat sich bei seiner ersten Begegnung mit Philoktet bewährt, seine moralischen Zweifel überwunden und eine überzeugende Trugrede dargeboten, die ihre Wirkung nicht verfehlen wird.

      Von besonderer Bedeutung für unsere Untersuchung sind die folgenden Verse 391–402. Sophokles lässt auch hier auf einen wichtigen Monolog eine kurze Kommentierung durch den Chor folgen, erweitert allerdings den standardisierten Doppelvers11 (vgl. v. 317f.) hin zu einer vollklingenden Orchestration der verklungenen Rhesis des Akteurs. Der formalen Analyse der Passage wird ihr inhaltlicher Nachvollzug und ihre motivische Einordnung folgen.

      Eingeschaltet ist an unserer Stelle eine im Wesentlichen in iambischen und dochmischen Versen12 komponierte Strophe,13 die ihre metrische Entsprechung in den Versen 507–518 finden wird. Diese – zumindest in den Tragödien unseres Dichters14 – einmalige Konstruktion15 eines durch Sprechpartien der Akteure geteilten Strophenpaars stellt zunächst ein wesentliches und wirkungsvolles Strukturmoment der Szene dar. Die Einschaltung der lyrischen Partie bedeutet in diesem Sinn in beiden Fällen zunächst eine Unterbrechung des Handlungs­flusses; Zuschauer und Leser sind sich gleich mit dem Strophenbeginn der besonderen Aufmerksamkeit bewusst, die der aktuellen Szenerie durch die lyrische Zäsur beigelegt wird. Der Grund dieser herausgehobenen Gestaltung an unserer (ersten) Stelle ist offensichtlich: Wie schon ausgeführt, hat der Monolog des Neoptolemos die Realisierung der im Prolog geplanten Intrige geleistet.16 Die umfangreiche Schilderung Philoktets in den Versen 254–316 hat damit ihre Beantwortung gefunden: Nachdem der Prot­agonist seine Vorgeschichte detailliert vorgebracht hatte, referierte Neoptolemos mit der fiktiven Streitszene das angeblich ausschlaggebende Ereignis der momentanen Situation. Die Vorstellung der beiden Akteure ist damit beendet, beide sind über den Hintergrund, die aktuelle Situation und die Absichten bzw. Wünsche des jeweils anderen informiert. Die mutwillige Täuschung des Prot­agonisten durch seinen Gesprächspartner und die damit forcierte Informationsungleichheit zwischen Philoktet und den restlichen Akteuren sowie den Rezipienten erfüllt die Szenerie dabei mit enormer Brisanz.

      Wenden wir uns dem Inhalt der Partie zu. Die gesamte Strophe ist eine Anrufung der Erde (Γᾶ), deren Rang als Göttermutter ihr eine besondere Verehrung zukommen lässt. Die Ansprache der Gottheit im ersten Vers ist dabei durch zwei der Namensnennung vorangehende Adjektive sowie eine folgende Angabe zur genealogischen Einbindung ausgestaltet, die drei besondere Eigenschaften der Gottheit vor Augen führen und damit die Identifikation mit drei göttlichen Personen ermöglichen: Γᾶ hat eine besondere Beziehung zu Bergen (ὀρεστέρα), ist „allnährend“ (παμβῶτι) und zudem, wie der zweite Vers darstellt, die Mutter des Zeus. Damit sind drei Gottheiten – Gaia, Kybele und Rhea – zu einer umfassenden göttlichen Person vereinigt,17 die geradezu als Übergottheit das Pantheon der olympischen Götter mit ihrem Oberhaupt Zeus zu überbieten scheint. Es passt dabei ins Bild, dass als göttliche Macht ausschließlich Zeus bisher vom Chor namentlich erwähnt wurde (v. 140); unsere Stelle kontrastiert in ihrer ausgreifenden Hinwendung zu einer göttlichen Person so mit der bisherigen Zurückhaltung des Chors.

      Ganz in der Form eines traditionellen Götteranrufs18 schließt sich an die namentliche Nennung der Gottheit ein Relativsatz mit der Angabe eines bevorzugten Herrschaftssitzes an: Hier ist es der große, goldführende Fluss Paktolos in Kleinasien (τὸν μέγαν Πακτωλὸν εὔχρυσον), den Gaia bewohnt (νέμεις). Die eigentliche invocatio der Göttin ist damit abgeschlossen; es folgt die Erinnerung an eine bereits erfolgte Anrufung, wobei Ort und Anlass dieses (fiktiven) Gebets die logische Verbindung zur dramatischen Situation schaffen. Dort nämlich (κἀκεῖ) – gemeint ist, wie aus dem Folgenden hervorgeht, das Heerlager vor Troia – habe der Chor sich schon einmal an die Gottheit gewandt (σὲ ἐπηυδώμαν), als nämlich (ὅτʼ) die gesamte Hybris der Atriden seinen Herrn, d.h. Neoptolemos, getroffen hatte. Ein zweiter, ebenfalls durch ὅτε eingeleiteter Temporalsatz konkretisiert die erlittene Schmach und wiederholt den unerhörten Sachverhalt: Die Waffen seines Vaters (τὰ πάτρια τεύχεα) seien nicht Neoptolemos, sondern Odysseus zugesprochen worden. Eingebettet in diese Ausführung ist ein erneuter, emotional aufseufzender Anruf (ἰὼ μάκαιρα) der herrschaftlich thronenden Gottheit.19 Betont nimmt die Bezeichnung σέβας ὑπέρτατον – „Gegenstand allerhöchster Verehrung“ – für die in Frage stehenden Waffen20 die Schlussstellung der Strophe ein. So abrupt wie die Strophe begann, schließt sie an diesem Punkt; Philoktet meldet sich zu Wort und bekundet seine Sympathie mit dem entehrten Neoptolemos.

      Machen wir uns rückblickend bewusst: Mit dem Bezug auf die Erzählung des Neoptolemos sind die Choreuten ganz im eigentlichen Thema angelangt. Während der Anruf der Gaia zu Beginn der Strophe noch überraschend und im Kontext der Szene zunächst fremd wirkte, hat die Passage in Vers 396f. ihre thematische (und arithmetische) Mitte erreicht. Ein doppeltes Hinweisen prägt diese Zentralpartie der Strophe, bettet sie in die aktuelle Situation ein und macht ihr spezifisches Zeitverhältnis deutlich: Während das Demonstrativpronomen τόνδʼ (v. 396) auf den präsenten Neoptolemos verweist und ihn erneut als Opfer der Entehrung in den Vordergrund rückt, weist die dreimalige Konkretisierung der Szene des Waffenstreits in die Vergangenheit. Schrittweise führt der Chor dabei zum Kern der Situation: Das noch unbestimmte κἀκεῖ (v. 395) wird durch die beiden Temporalsätze mit Leben gefüllt, die Schlusspartie der Strophe wiederholt in unvermittelter Abfolge mit dem erneuten Anruf der Göttin sowie der Angabe des Nutznießers Odysseus und des Streitgegenstandes drei wesentliche inhaltliche Momente. Die Anmaßung der Atriden als ausschlaggebendes Moment nimmt dabei die Mitte der Ausführungen ein (ὕβρις in v. 397). In diesem Sinne ist die Strophe des Chors eine komprimierte, emotionale Ausleuchtung der entscheidenden Motive des vorangegangenen Monologs; sie unterstreicht die Opferrolle des Neoptolemos, hebt die Verantwortlichkeit