Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Noch einmal bekunden die Choreuten daraufhin die Gewalt und Lautstärke Philoktets (προβοᾷ τι δεινόν), bevor dieser in Vers 219 endgültig in den für Neoptolemos, den Chor und die Zuschauer sichtbaren Bereich tritt.

      Machen wir uns kurz den Zusammenhang dieses letzten Abschnitts klar, bevor wir die Passage im Ganzen überblicken. Mit der Gegenstrophe ist Philoktets Präsenz auf ein Höchstmaß gesteigert: Während zunächst, d.h. in den Versen 201–209, noch die Lautäußerungen selbst Gegenstand der Betrachtung und zugleich grammatikalisches Subjekt waren, fokussiert sich an unserer Stelle die Betrachtung ganz auf den Prot­agonisten selbst. Er ist Handlungsträger, selbst das zu beschreibende Phänomen und daher Subjekt der ausgreifenden Periode v. 212ff. Die dabei seinen Lauten zukommenden Beschreibungen werfen zunächst das kontrastreiche Bild eines wandernden Hirten auf, bilden dann die Realität ab und enden in einem Vergleich, der ganz aus der nautischen Perspektive der Schiffsleute gesprochen ist. Man mag in dieser Dreigliedrigkeit einen Widerhall der prominenten Dreigliederung in der vorangegangenen Strophe erkennen und den dort gegebenen Ausgestaltungen so die Vergleiche der Gegenstrophe zur Seite stellen.

      Das „Echo“15 der Junkturen κατʼ ἀνάγκαν und ὑπʼ ἀνάγκας (v. 206 und 215) ist dabei ein wirkungsvolles Mittel, den zentralen Gedanken des Strophenpaars zum Ausdruck zu bringen. Wie schon im vorangegangenen Abschnitt das Motiv der Einsamkeit durch die Wiederholung des Begriffs μόνος bzw. μοῦνος (v. 172 und 183) als wesentliches Moment der Reflexion herausgearbeitet wurde, so verknüpft auch hier das Echo die Zusammengehörigkeit des Strophenpaars und stellt mit Philoktets Not einen bedeutenden dramatischen Umstand dar.

      Wir sind unversehens dazu gekommen, das Verhältnis des letzten Strophenpaars zu den anderen Teilen der umfangreichen lyrischen Szene klarzustellen. Ohne Vollständigkeit anstreben zu wollen, müssen die wesentlichen und ins Auge stechenden Bezüge hier aufgeführt werden. Gerade mit dem ersten Strophenpaar der Passage (v. 135–168) steht der Schlussabschnitt in vielfältiger begrifflich-motivischer Verbindung: Dem fragenden τίς τόπος (v. 157) steht zunächst das unbestimmte ἤ που τᾷδʼ ἢ τᾷδε τόπων (v. 204), schließlich das bestimmte ἔντοπος (v. 211) gegenüber. Das mit dieser letzten Angabe kontras­tierende οὐκ ἔξεδρος (v. 211) spiegelt zudem die Frage τίς ἕδρα, ebenfalls aus Vers 157, sowie die Bezeichnung ἔνεδρος (v. 153). Auch die Frage nach dem Weg des Helden (τίνʼ ἔχει στίβον v. 157) klingt in der lokal noch unscharfen Formulierung φθογγά του στίβον ἕρποντος v. 206 erneut an. Die schlichte Benennung des Helden als „Mann“ (ἀνήρ v. 212) ist eine Reminiszenz an die erste Apostrophierung des Prot­agonisten als ἀνὴρ ὑποπτάς (v. 136). Während der Chor zudem in der ersten Gegenstrophe noch die Furcht äußerte, den herannahenden Philoktet im Ernstfall nicht wahrzunehmen (μή με λάθῃ v. 156), ist der nun an das Ohr der Choreuten dringende Ruf des Gequälten untrüglich: οὐδέ με λάθει (v. 207f.).

      Es ist nach dieser Aufzählung offensichtlich: Die beiden Strophenpaare sind absichtsvoll in der Form von Frage und Antwort aufeinander hin komponiert. Die Sprechersituation ist dabei annähernd gespiegelt: Während zunächst Neoptolemos den Chor mit den nötigen Informationen versorgte, ist es am Ende der Partie am jugendlichen Kapitän, sich selbst über die Vorgänge ins Bild setzen zu lassen. Die virulenten Fragen vom Beginn der Partie werden so beantwortet.

      Aber auch das inmitten dieser motivisch-begrifflichen Klammer positionierte eigentliche Lied, d.h. das zweite Strophenpaar v. 169–190, klingt in einigen Formulierungen der Schlusspartie wieder an: Auf die strukturelle Ähnlichkeit mit Blick auf die Betonung eines Zentralbegriffs ist bereits hingewiesen worden; augenfällig sind weiterhin die Spiegelung von τηλεφανής (v. 189) in τηλωπόν (v. 216), die erneute Verwendung des Partizips ἔχων (v. 213, vgl. v. 171 und 187) sowie die möglicherweise bewusste Anspielung auf die Tierthematik aus Vers 184 im Bild des Hirten v. 214f. Diese Wiederaufnahmen und Spiegelungen erschöpfen sich dabei nicht in reiner Wiederholung oder Ausmalung bereits behandelter Sachverhalte, sondern sind auf Grund ihrer dramatischen Brisanz wesentlich dazu geeignet, die eigentliche Handlung erneut anzustoßen und fortzuführen.

      Die gesamte Auftrittsszenerie des Chors kann nun überblickt werden. Kurz lässt sich zusammenfassen: Die im ersten Strophenpaar ausgetauschten Informationen setzt der Chor im mittleren Abschnitt der Passage in ein vitales Bild vom Prot­agonisten um und bereitet damit zugleich dessen Auftritt vor, den das dritte Strophenpaar als affektvolle Liminalszene in greifbare Nähe rückt. Es bietet sich an, die Passage in die drei Abschnitte Information und Erkundung, Imagination und Ausdeutung sowie Auftrittsvorbereitung zu gliedern. Wenn BURTON16 und PAULSEN17 darin das strukturelle „Schema A-B-A“18 erkennen, so treffen sie sicherlich den richtigen Sachverhalt. Gerade die oben angeführten vielfältigen Bezüge zwischen dem ersten und dem dritten Strophenpaar sprechen in dieser Hinsicht für sich. Allerdings läuft die gewählte Formulierung Gefahr, die komplexe Struktur der Partie zu vereinfachen. Statt eines simplen dacapo – um, der Sache ganz und gar angemessen, mit Begriffen der Musik zu reden – bietet sich an, etwas differenzierter von einer Abfolge Exposition – Durchführung – Reprise zu sprechen und so das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander genauer zu fassen.19

      Grundthema und Ausgangspunkt der gesamten Partie ist dabei mit Philoktet der Prot­agonist selbst: Sein elendes Leben auf der sonst menschenleeren Insel bildet in der bildhaften Ausgestaltung des zweiten Strophenpaars die Mitte des Abschnitts. Gerahmt wird diese dabei durch die Erkundung der konkreten Lebensumstände des Helden durch den Chor sowie die schrittweise Konfrontation mit dem realen Philoktet, der schließlich auf der Bühne erscheinen wird. Die Szenerie entfaltet in dieser Hinsicht gerade gegen Ende eine enorme Sogwirkung, die rückblickend geradezu das dramatische Crescendo der bisherigen Abfolge von Prolog und Auftrittsszene des Chors darstellt. War Philoktet bereits seit den ersten Worten des Odysseus (v. 4ff.) Gegenstand und Bezugspunkt von Handlung und Reflexion, so sind mit der lyrischen Partie der Prot­agonist selbst, das Verhältnis der Akteure einschließlich des Chors untereinander und die gesamte dramatische Umwelt in höchstem Maß ausgeleuchtet.

      Schon angesprochen wurde der durchgehende Handlungsfluss im Übergang vom Prolog zur Auftrittsszene des Chors. Indem der Chor keine leere Bühne betritt, sondern sich zu Neoptolemos als einem der Prologsprecher gesellt und mit ihm in ein Gespräch eintritt, ist die gesamte folgende Szenerie als direkter Anschluss an die vorangegangene Unterredung etabliert: Kein Neubeginn, sondern dramatische Kontinuität prägt das Bühnengeschehen.20 Dementsprechend sind bestimmende Motive und Strukturmomente des Prologs auch für die lyrische Passage von Bedeutung: Zunächst ist letztere wesentlich dialogisch, d.h. Austausch zwischen Mannschaft und Kapitän. Statt dem Zwiegespräch Odysseus-Neoptolemos also eine rein reflektierende, monologische Partie folgen zu lassen, belebt Sophokles die bereits etablierte und mit dem Abtritt des Odysseus zu einem ersten Ende gekommene Dynamik des Dialogs neu.

      Die Erkundung des dramatischen Raums, d.h. der Bühne, sowie die Beschreibung der Höhle und der Lebensbedingungen Philoktets bilden zudem eine weitere Brücke zwischen Prolog und Par­odos. Indem auch der Chor über einige wesentlichen Momente der Handlung informiert wird und sich selbst ein Bild von der Lage macht, wiederholt sich die strukturelle Ausgangssituation des Prologs. Wenn dabei die beiden dialogisch strukturierten Strophenpaare eine reflektierende und imaginierende Kurzode umrahmen, ist das Prologgespräch in einer anderen Personenkonstellation, also unter veränderten Vorzeichen, gespiegelt und – unter Einschaltung und Nutzbarmachung eines anderen Formele­ments – geradezu fortgeführt.

      Damit allerdings nicht genug. In entscheidender Hinsicht kontrastiert die Auftrittsszene des Chors mit dem Prolog und setzt sich in wesentlichen Elementen von ihm ab: Zum einen lenkt die lyrische Passage den Blick ganz und gar auf den Prot­agonisten und blendet dabei die moralische Diskussion sowie das Unbehagen des Neoptolemos angesichts der geplanten Intrige aus. Indem er seiner Mannschaft als „souveräner Führer in der Kopie des Od[ysseus]“21 gegenübertritt und zudem das ausgemalte Leid einzuordnen und zu deuten versteht (v. 191ff.), ist die Problematik seines Vorhabens und der in Rede stehenden Täuschung ganz aus dem Blick geraten. Statt einer Problematisierung