Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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einen unterstreichen sie die Emotionalität der Ausführungen und führen die Verzweiflung Philoktets vor Augen, der beim Versuch, Neoptolemos zu überzeugen, buchstäblich sämtliche Register zieht. Zum anderen ermöglichen sie trotz ihrer streiflichtartigen Kürze Phil­oktets Situation innerhalb eines allgemeineren, theologischen Kontextes zu verorten. Die Reaktion des Chors in der sich anschließenden Strophe wird diese Andeutung aufgreifen.

      Nach der Schilderung seines Elends im ersten ausgreifenden Monolog des Epeis­odions (v. 254–316) hat sich der Prot­agonist an unserer Stelle zum zweiten Mal ausführlich zu Wort gemeldet. Zugleich bildet die vorliegende Rhesis nach der eingeschalteten Lügenrede des Neoptolemos (v. 343–390) den dritten umfassenden Wortbeitrag der Szene. Von besonderem Interesse ist für die vorliegende Untersuchung die sich nun anschließende (dritte) Kommentierung durch den Chor. Wie schon angesprochen folgt in Vers 507 das metrische Pendant zur Chorstrophe v. 391–402. Vollziehen wir zunächst Inhalt und sprachliche Gestaltung nach, bevor wir eine motivische und dramaturgische Einordnung versuchen.

      Wie schon der Prot­agonist in seinem eben verklungenen Monolog, so wendet sich auch der Chor direkt an Neoptolemos: Der Imperativ οἴκτιρ(ε) mit dem angeschlossenen Vokativ ἄναξ („Hab Erbarmen, Herr!“) eröffnet die Strophe volltönend. Parataktisch angeschlossen folgt als Begründung der emotionalen Involvierung der Verweis auf Philoktets herausragendes Schicksal: Das Maß an leidvollen, unerträglichen Torturen (δυσοίστων πόνων ἆθλʼ),28 das Philoktet geradezu „gesammelt“ (ἔλεξεν) habe, wünscht der Chor keinem seiner Freunde.

      Wenn, so der Chor in erneuter Hinwendung an seinen Herrn (ἄναξ v. 510), Neoptolemos Hass gegen die Atriden hege, so würde er selbst (der Chor) die üble Tat der griechischen Feldherren zu Philoktets Vorteil umdeuten,29 diesen auf dem Schiff dahin bringen, wohin es ihn verlange, und so einer göttlichen Vergeltung entfliehen (θεῶν νέμεσιν ἐκφυγών).

      Der Aufbau und die sprachliche Gestaltung der wiedergegebenen Konditionalperiode sind dabei sprachlich besonders ausgefeilt: Während der konditionale Vordersatz – eingeleitet durch ein fortführendes δέ – sich der Gefühlsregung des angesprochenen Akteurs versichert, entwickelt der Hauptsatz den Vorschlag der Choreuten. Dabei wird das Prädikat (πορεύσαιμʼ ἄν) durch zwei Partizipien gerahmt, von denen das erste (μέγα τιθέμενος) die beabsichtigte Rettung als Umdeutung der Verhältnisse interpretiert, das zweite (ἐκφυγών) einen Nebenzweck des Vorhabens angibt. Die betonte Selbstverortung des Chors (ἐγὼ μέν, „ich für meinen Teil“ v. 511) auf der einen, die vorsichtig-höfliche Formulierung auf der anderen Seite (Verwendung des potentialen Optativs30) unterstreicht dabei den Vorschlag des Chors als selbstbewussten Diskussionsbeitrag, illustriert jedoch gleichzeitig das Verhältnis der Schiffsleute zu ihrem Herrn. So wird auf ein mit Vers 511 korrespondierendes und damit inhaltlich kontrastierendes δέ bewusst verzichtet: Die Strophe bleibt in diesem Sinne offen und fordert Neoptolemosʼ Antwort geradezu heraus. Dass dabei die Erwähnung der θεῶν νέμεσις das Ende der Strophe bildet, ist freilich nicht zufällig: Der Chor konkretisiert damit die moralisch-theologischen Streiflichter des vorangegangenen Monologs – v.a. die Berufung auf Zeus v. 484 – und lässt so hinter seinem Vorschlag, Philoktet nach Hause zu bringen, die Drohkulisse einer möglichen göttlichen Vergeltung aufscheinen. Zum eingeforderten Mitleid (v. 507) und dem Hass auf die Atriden (v. 510) gesellt sich so die Furcht vor einer derartigen Bestrafung als drittes Argument für ein beherztes Einschreiten von Seiten des Neo­ptolemos und seiner Mannschaft; als drastischster Beweggrund nimmt es dabei die Schlussstellung innerhalb der Partie ein.

      Wie lässt sich die Strophe in den dramatischen Kontext einordnen? Die Partie bietet ein konzentriertes Abbild der aktuellen Situation sowie der involvierten Personen: Sie führt erneut Philoktets Leid vor Augen, leistet die Selbstverortung des Chors im dramatischen Diskurs und zielt auf Neoptolemosʼ Antwort sowie sein aktives Einschreiten. Damit kommt ihr eine besondere Übergangsfunktion zu: Indem der Chor vor der entscheidenden Antwort seines Herrn auf Philoktets Bitte die Situation pointiert zusammenfasst und selbst engagiert Partei ergreift, markiert er eine brisante Gelenkstelle der Handlung. Anders gesprochen: Sophokles zögert an diesem Punkt der Tragödie den Fortgang der Geschehnisse erneut für einen Moment heraus; statt Neoptolemos sofort zu Wort kommen zu lassen, rekapituliert der Chor den erreichten Status und vertieft den Eindruck des verklungenen Monologs.

      Wie ist die Strophe nun konkret in den Kontext eingepasst, welche Methode wendet Sophokles zur Vertiefung des dramatischen Moments an? Aufschlussreich ist der Beginn der Partie: War schon in Philoktets Monolog der Imperativ das zentrale sprachliche Phänomen, so setzt auch die Strophe des Chors diese Anrede an Neoptolemos fort und reiht sich damit in die Gesprächssituation ein. Mit dem Sprecherwechsel ist dabei freilich eine Perspektivverschiebung verbunden: Aus dem Reden des Prot­agonisten wird erneut ein Hinweisen auf und Sprechen über ihn. Ein grundlegendes Moment der vorangegangenen Rhesis ist damit wieder aufgenommen und dient unter veränderten Vorzeichen als Auftakt der chorischen Kommentierung. Dass dabei gerade der Aufruf zum Mitleid diese herausgehobene Stellung einnimmt, ordnet die Strophe in den motivischen Horizont der Choräußerungen ein: Die erste ausführliche Leidensschilderung innerhalb der Par­odos mit ihrem betonten οἰκτίρω (v. 169) wird an unserer Stelle durch den Imperativ οἴκτιρε wieder aufgerufen; das zentrale Motiv des Mitleids ist so im aktuellen Kontext verankert und erscheint mit Blick auf die im Raum schwebende Täuschungsabsicht des Neoptolemos geradezu pervertiert.31 Aus dieser Perspektive nimmt weiterhin die begriffliche Reminiszenz aus Vers 318 (ἐποικτίρειν σε) eine Mittelstellung ein.

      Weiterhin leistet die kurze Strophe schon mit dem Verweis auf die Leiden des Prot­agonisten sowohl die Selbstverortung des Chors als auch eine persönliche Emotionalisierung: Dem konstatierenden Ausruf, Philoktet habe ein hohes Maß an Leid zu ertragen, folgt der Wunsch nach Verschonung der eigenen Freunde. Indem der Chor so das vor Augen liegende Elend Philoktets bis zu einem gewissen Grad in Beziehung zu sich und seiner eigenen Lebenswirklichkeit setzt, bekundet er (erneut) seine emotionale Involvierung.

      Gerade der Bezug auf die korrespondierende Strophe v. 391–402 ergibt so eine grundlegende strukturelle Parallele: Hatte sich der Chor dort in die von Neoptolemos entworfene (fiktive) Szenerie der Vergangenheit zurückprojiziert und damit seine aktive Rolle am damaligen Geschehen bekundet, so verorten sich die Schiffsleute an unserer Stelle ganz bewusst in der dramatischen Realität. War im ersten Fall ein konkreter Bezug auf die Gegenwart oder die Zukunft bewusst ausgeblieben, so leistet die zweite Strophe genau dies: Sie wirkt in ihrer Konzentration bündelnd und stellt mit dem Vorschlag der Choreuten einen möglichen Fortgang der Handlung in Aussicht. In beiden Fällen setzen die Strophen dabei Strukturen und Motive des jeweils vorangegangenen Monologs fort und orchestrieren diesen durch den Wechsel von Sprecher und Perspektive.

      Als verbindendes Motiv der beiden Strophen fallen bei näherer Betrachtung zudem die Atriden, ihr Handeln und die Reaktion darauf ins Auge: War dabei in der ersten Strophe die Hybris der Feldherren (v. 395f.) unmittelbarer Grund des referierten Götteranrufs, so ist der Hass auf Agamemnon und Menelaos (v. 510) in der zweiten Strophe emotionales Ausgangsmoment der ausgesprochenen Empfehlung.32

      Betrachten wir an diesem Punkt kurz den Fortgang des Epeis­odions, um abschließend zu einer Einordnung und Bewertung der chorischen Präsenz im Ganzen zu kommen.

      Neoptolemos tritt im Anschluss an die Chorstrophe in ein kurzes Gespräch mit dem Chorführer ein. Dieser versichert ihn, trotz der möglichen Belästigungen durch Philoktets Krankheit zu seinem eben vorgebrachten Vorschlag zu stehen. Neoptolemos gibt sich daraufhin überzeugt und willigt ein, den Kranken auf seinem Schiff mitzunehmen. Philoktet ist von Freude und Dankbarkeit überwältigt: Vor der Abfahrt lädt er seinen „Retter“ ein, die Höhle in Augenschein zu nehmen, in der er sein Dasein in den letzten Jahren gefristet hat. So könne Neoptolemos seine Leidensfähigkeit und Duldsamkeit erst recht bemessen; denn, so der Prot­agonist, keiner, der auch nur den Anblick der Behausung erlebt habe, könne wohl das ertragen, was er selbst ausgehalten habe (v. 536f.). Er allerdings habe gezwungenermaßen33 gelernt, sich auch mit Üblem zufrieden zu geben (v. 538).

      Bevor sich die Akteure daraufhin