dem abrupten Beginn mit seinem Bezug auf Ixion konkretisiert die erste Strophe den dramatischen Bezug: Als Rahmenthema der folgenden Reflexion ist das unverhältnismäßige Leid des Protagonisten abgesteckt, dessen Schilderung den Mittelteil des Stasimons darstellt. Dabei sind die Einsamkeit und die konkreten Entbehrungen hinsichtlich der Versorgung mit Nahrung die zentralen Motive. Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Schilderungen versteht der Chor als der Vergangenheit zugehörig, wohingegen die zweite Gegenstrophe die grundsätzliche Wende des Geschehens thematisiert. Ganz in der imaginierten Szene aufgehend verschiebt der Chor dabei seinen Fokus vom unmittelbar greifbaren Umfeld, d.h. der konkreten Bühnensituation als dem Ort von Philoktets Vergangenheit, hin zur außerhalb des lokalen Rahmens liegenden Heimat des Protagonisten.
Innerhalb der ausgreifenden Imagination des Mittelteils erfahren wir also nichts wesentlich Neues. Vielmehr können wir sogar sagen: Sämtliche Motive, die im Stasimon ihre Ausgestaltung finden, sind im bisherigen Verlauf der Tragödie zumindest angeklungen, wenn ihnen nicht sogar zentrale Bedeutung zukam. Dabei fallen zunächst die zum Teil begrifflichen Bezüge zur Parodos ins Auge. Die Einsamkeit des Helden war schon in der Auftrittsszene des Chors bestimmendes Thema: Mit dem programmatischen μόνος (v. 688) ist ein Zentralbegriff dieser Partie (v. 172 sowie 182) wieder aufgenommen. Zudem wiederholt die Partizipialkonstruktion οὐκ ἔχων […] τινʼ ἐγχώρων (v. 691) die Wortwahl der Parodos, in der es hieß μή […] σύντροφον ὄμμʼ ἔχων (v. 170f.). Die Schilderung des Anfalls liest sich vor diesem Hintergrund geradezu als Konkretisierung der in der Parodos konstatierten νόσος ἀγρία (v. 173) und ὀδύναι (v. 185). Die dort aufgeworfene Frage nach dem schier unermesslichen Durchhaltevermögen des Protagonisten πῶς ποτε πῶς […] ἀντέχει (v. 175f.) findet ihr Echo in Vers 687ff.: πῶς ποτε πῶς […] κατέσχεν. Das einleitende τόδε […] θαῦμά μʼ ἔχει ist dabei die späte Antwort auf Neoptolemosʼ entschiedenes οὐδὲν τούτων θαυμαστὸν ἐμοί v. 192. Weitere bereits in der Parodos angedeutete Nebenmotive und Parallelen sind außerdem das jammernde, widerhallende Klagen des Protagonisten (στόνος ἀντίπυρος ἀντίτυπος) schon in v. 186ff., 208f., 216f. und das Bild des kriechenden Helden aus v. 206f. (unter Wiederholung des Begriffs ἕρπω in v. 701, während das drastische εἰλυόμενος v. 702 Philoktets eigene Wortwahl εἰλυόμην aus v. 291 widerspiegelt).
Auch die Nahrungsproblematik war bereits im Auftrittslied des Chors angesprochen worden (Neoptolemosʼ Erklärung v. 164f. sowie λιμῷ v. 186); die konkrete Ausgestaltung im Standlied speist sich dagegen im Einzelnen aus der Schilderung des Protagonisten, die er in den Versen 287ff. gegeben hatte (vgl. v.a. die Angabe γαστρί v. 287 sowie 711 und die Thematisierung der Trankbeschaffung v. 292ff.). Dass dabei Philoktet auf Lemnos keine „helfende Hand“ zur Seite stand (v. 694ff.), hatte er in seiner umfassenden Schilderung der eigenen Situation bereits selbst angedeutet (v. 280ff.).
Auch der zweite ausführlichere Monolog des Protagonisten (v. 468–506) dient dem Chorlied geradezu als motivische Fundgrube: So sind die geographischen Details – der Fluss Spercheios sowie das Oita-Gebirge – am Ende des Liedes bereits in Philoktets Bitte v. 488ff. genannt worden.
Eine subtilere Reminiszenz innerhalb des Stasimons erfährt des Weiteren die im direkt vorangegangenen Gespräch virulente Bogenthematik. So entsprechen die Aussagen zur Nahrungsbeschaffung mit Hilfe der Waffe in der zweiten Strophe (v. 710f.) zwar durchaus der von Philoktet selbst gegebenen Schilderung, wiederholen damit die bereits etablierte Motivik und Bildersprache und insinuieren in keiner Weise einen direkten Bezug auf die Bedeutungsaufladung, die das Requisit im ersten Epeisodion erfahren hat. Andererseits stellt die prominente Bezugnahme auf die Apotheose des Herakles am Ende des Liedes einen – wenn auch zunächst vielleicht nicht direkt greifbaren – Bezug zur Bogenthematik dar: Mit dem Wissen um die Vorgeschichte der Waffe als eines Geschenks an Philoktet für dessen aktives Einschreiten bei der Verbrennung des Herakles (v. 801f.) erscheint die Schlussszene des Liedes in neuem Licht. Sie fungiert so nicht mehr als kontextfreier, mythologischer Abschluss eines Liedes, das seinen Fokus vom unmittelbaren dramatischen Geschehen abgewendet hat. Vielmehr berührt das Lied in dieser Partie ein zentrales Motiv der Tragödie in imaginativ-assoziativer Manier und leistet einen Beitrag zur unterschwelligen Heraklesthematik der Tragödie,35 die im Auftritt des Vergöttlichten in Vers 1409 kulminieren wird.36
Es ist klar geworden: Das Stasimon verarbeitet und intensiviert unter leichter Verschiebung der Perspektive Motive aus zentralen Partien der Tragödie teils expressis verbis, teils auf subtile Weise, die erst ein Blick über die gesamte Tragödie und die ihr zu Grunde liegenden Motivstränge zu Tage fördert. Das Lied beantwortet als rein chorische Passage im Besonderen die Parodos als bisher längste lyrische Partie sowie den Bericht des Protagonisten v. 254–316. Von entscheidender Bedeutung ist bei dieser Spiegelung und Wiederaufnahme die zeitliche Einordnung: Der Chor bezeichnet bewusst einen Wendepunkt innerhalb des Geschehens, indem er die Bündelung und drastische Ausarbeitung entscheidender Motive als Blick in die Vergangenheit inszeniert, dem eine dezidierte Zukunftsaussicht entgegengestellt wird. Das Standlied füllt so den nach dem Abgang der Akteure erreichten Ruhepunkt mit einer Gesamtschau über das Drama, wie es sich bis zu diesem Punkt ereignet hat. Dieser herausgehobenen Funktion entspricht seine bewusste Positionierung im Rahmen der Binnenstruktur der chorischen Partien: Es markiert mit seinem Panorama bewusst die Mitte der Tragödie37 und kontrastiert mit den im ersten Epeisodion eingepassten Strophen. Während diese jeweils zur Intensivierung des aktuellen Moments dienten und dabei nur einen begrenzten argumentatorischen bzw. emotionalen Aspekt entfalteten, bietet das Lied an unserer Stelle einen umfassenden, die unmittelbaren Grenzen des Bühnengeschehens übersteigenden Rundumblick. In diesem Sinn bereitet es Zuschauer und Leser auf eine Wende innerhalb des Geschehens vor:38 Es markiert die Gelenkstelle der Handlung durch motivische Engführung im Rahmen einer sinnstiftenden Einteilung des Geschehens in Vergangenheit und Gegenwart/Zukunft.
Seine besondere dramaturgische Brisanz erfährt das Stasimon aus der bewussten Differenz zwischen dem in ihm ausgedeuteten Zeitverhältnis und dem unmittelbaren Zusammenhang innerhalb des Handlungsverlaufs. Konkret gesagt: Das Wissen des Zuschauers um die dramatische Situation mitsamt der zu ihrem Höhepunkt entwickelten Intrige macht ein affirmatives Nachvollziehen der chorischen Ausdeutung schwierig, geradezu unmöglich. Dabei fällt nicht nur die umstrittene zweite Gegenstrophe aus dem Rahmen. Schon der Blick in die Vergangenheit, wie ihn das Stasimon entwirft, ist dabei problematisch: So entspricht das hier in den ersten drei Strophen gezeichnete Bild des Protagonisten nur zum Teil der im Drama bisher erlebten Präsenz. In seiner ausführlichen Drastik und Zentrierung auf das Leid stellt es einen leichten Gegenpol zum bereits zitierten Monolog des Helden (v. 254–316) dar, der – neben Klage und Jammer – den Fokus eher auf die Bewältigung der einzelnen Probleme legte.39 Anders gesagt: Philoktet war auf der Bühne zwar durchaus als Leidender präsent, die ausgreifende Farbigkeit und Drastik entspringt allerdings an unserer Stelle – wie schon in der Parodos – der Imagination des Chors und hat keinen direkten Rückhalt im dramatischen Spiel. Diese subtile Akzentverschiebung findet ihren Gegenpart im Ausblick auf die Zukunft: Dass Philoktet nun „glücklich und groß“ aus den gegenwärtigen Übeln hervorgehen werde, entspricht genauso wenig der Erwartung des informierten Zuschauers und der sich anschließenden Szene wie die drastische Zeichnung der Vergangenheit der bisherigen Realisierung von Philoktets Leid auf der Bühne. Das reale, d.h. dramatische Zeitverhältnis, ist im Vergleich zum Stasimon gerade umgekehrt: Während die Bühnenhandlung bis jetzt einen zwar leidenden, jedoch standhaften und ausdauernden Philoktet inszeniert hat, gehört der vom Stasimon im Rahmen einer Vergangenheitsschau geschilderte Ernstfall der Einsamkeit und Hilflosigkeit, d.h. der Krankheitsanfall, der kommenden Szene an. Nicht nur, dass damit der optimistische Ausblick schlagartig mit der eindrucksvollsten, emotionalsten und eindringlichsten Szene kontrastiert; die Ausgestaltung der Vergangenheit realisiert sich als entscheidendes, die Peripetie auslösendes Moment der Tragödie in ungeahnter Drastik. Dass dabei dem leidenden Protagonisten bei seinem Anfall ein „Freund“ zur Seite steht, stellt natürlich eine gewisse Abweichung zu dem in der ersten Gegenstrophe präsenten und bestimmenden Einsamkeitstopos dar. Die unverhohlene Anschaulichkeit