Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Neoptolemos ist nun im Besitz der Wunderwaffe und bittet nach dem Empfang des Utensils in bewusst ambivalenter Sprache um günstigen Wind für die bevorstehende Abfahrt (v. 779ff.). Soweit der erste Teil der Szene, der in der Übergabe des Bogens gipfelt und damit das Spiel mit dem Requisit aus dem ersten Epeis­odion (v. 654ff.) fortsetzt. War Philoktet dabei zwischen den Versen 757 und 782 scheinbar von akuten Anfallssymptomen verschont geblieben, so beschreibt er in einer zweiten längeren Rhesis (v. 782–805) zunächst das neu einsetzende Herausträufeln von Blut aus seinem Fuß und entfaltet daraufhin neben der Bitte, in seiner Situation jetzt nicht alleine gelassen zu werden (v. 789), ein Panorama seiner Emotionen: So erfolgt zunächst die anklagende Apostrophierung der für sein Übel Verantwortlichen – Odysseus, Agamemnon und Menelaos – (v. 791–796), darauf die Anrufung des Todes (v. 797f.) und die direkt an Neoptolemos gerichtete Aufforderung, ihn als letzten Freundschaftsdienst zu verbrennen (v. 799ff.) und damit Philoktets eigenes Handeln an Herakles zu wiederholen. Ähnliche sprachliche Mittel wie die eben herausgestellten prägen auch diesen zweiten längeren Redebeitrag: Während die Fülle der Interjektionen und ihre Dichte etwas nachlässt, beherrschen die vollklingenden Anrufungen die Passage und verleihen Phil­oktets verzweifelt-wütender Verfassung passenden Ausdruck.

      Es schließt sich trotz Neoptolemosʼ anfänglichem Schweigen zu den drastischen Bitten seines Gegenübers (v. 804f.) ein erneutes kurzes Wechselgespräch der beiden Akteure an (v. 806–820), das in seinem schnellen Sprecherwechsel (v.a. v. 810, 814, 816) die Klimax der Szene darstellt. Inhaltlich bekundet Neoptolemos sein tiefempfundenes Mitgefühl (v. 806) und verpflichtet sich per Handschlag, am Ort des Geschehens zu bleiben und Philoktet nicht alleine zu lassen; dieser sinkt kurz darauf unter seinen Schmerzen zu Boden (v. 819f.). Neoptolemos gibt seinen Matrosen darauf eine knappe Beschreibung des schweiß- und blutüberströmten Prot­agonisten und weist sie schließlich an, ihn ungestört liegen zu lassen. Mit Vers 827 beginnt der Chor daraufhin sein Lied.

      Machen wir uns vor der Beschäftigung mit der chorischen Partie Folgendes klar: Die zentrale Figur der gesamten Szenerie ist Philoktet: Seine Präsenz bestimmt das Verhalten der anderen Akteure, stößt das Bühnengeschehen an und hält es am Laufen. Damit einher geht eine bisher ungeahnte visuelle Drastik: Schon der Auftritt des kriechenden Helden (vgl. Neoptolemosʼ Aufforderung ἕρπʼ v. 730) lässt ein Leitmotiv der Beschreibung Philoktets erfahrbar werden (vgl. die dezidierten Hinweise auf das Kriechen als Fortbewegungsart des Gepeinigten v. 207 und 701). Die Schmerzensschreie und Verlaufsbeschreibungen des Krankheitsausbruchs (vgl. verdoppeltes διέρχεται v. 743, προσέρπει, προσέρχεται v. 788f. sowie das plastische στάζει φοίνιον κηκῖον αἷμα v. 783) geben ein detailliertes Bild der Situation. Die Schilderung eines Anfalls aus der ersten Gegenstrophe des Stasimons ist dabei gerade in der Blut-Thematik (vgl. v. 694ff.) erneut evoziert und in doppelter Hinsicht überboten: Zum einen steht an unserer Stelle der rein imaginativen Drastik des Chors die dramatische, sich aktuell vollziehende Realität gegenüber. Zum anderen schildert hier der unmittelbar betroffene Held sein Leiden selbst: Kein aus Mitleid motiviertes Hinschauen, Beschreiben und reflektierendes Einordnen durch einen mehr oder minder außenstehenden Dritten beherrscht die Szenerie, sondern das an Drastik nicht zu überbietende augenblickliche Mitteilen des Gequälten selbst.

      Aus diesem Blickwinkel lässt sich eine mögliche formale Frage beantworten: Der Chor steht der gesamten Szenerie wortlos gegenüber, es erfolgt keine Kommentierung von seiner Seite. Hätte nicht gerade hier ein Kommos zwischen dem Prot­agonisten und den Matrosen, möglicherweise auch eine größere Ensembleszene unter Einbindung des Neoptolemos zur Vertiefung und effektvollen Ausgestaltung der Situation dienen können? Die Zurückhaltung des Chors lässt sich – abseits möglicher Erklärungen aus der Rollentypologie – auch unter formalen Gesichtspunkten nachvollziehen: Indem am Beginn des zweiten Epeis­odions Philoktet alleine die Szenerie dominiert, ist seine herausgehobene, geradezu einsame Stellung wirkungsvoll herausgearbeitet. Sophokles gestaltet dabei einen bewussten Kontrast zum bildreichen Stasimon als umfangreicher chorischer Partie, die dezidiert eine Pause innerhalb des unmittelbaren Handlungsverlaufs füllt, und dem Weitergang des Bühnengeschehens, das sich ohne Unterbrechung bis zum Einschlafen des Prot­agonisten (und darüber hinaus) entwickelt. Anders gesagt: Der Auftritt des Prot­agonisten und sein Krankheitsanfall auf offener Bühne eröffnen den zweiten Teil der Tragödie mit der Peripetie, bei deren Ausgestaltung der Dichter bewusst auf gewisse Effekte verzichtet. Statt also die Anfallsszene zu einer großen Chorszene auszubauen, lenkt Sophokles bewusst den dramatischen Fokus auf den Prot­agonisten, dessen Handlung und Präsenz gewisse Leitmotive der Beschreibung seiner Person aktuell auf die Bühne bringen.

      Philoktets Hinsinken und Einschlafen in den Versen 819ff. lassen die unmittelbare Drastik zu einem vorläufigen Ende kommen: Das Lied des Chors scheint zunächst, wie schon das Stasimon, die eingetretene Pause im Verlauf der Handlung zu füllen. Die Szenerie ist allerdings eine ganz andere: Neben dem Chor befinden sich Philoktet – wenn auch schlafend – und Neoptolemos weiterhin auf der Bühne. Das mit Vers 827 beginnende Lied wird sich so zu einer Unterredung weiten, die mit dem Verweis auf die Intrigensituation die Brisanz der Szene in Erinnerung rufen und verdeutlichen wird.2 Ein detaillierter Nachvollzug gerade der ersten Strophe wird grundlegende Strukturen des Liedes herausstellen; die beiden weiteren Strophen können daraufhin kürzer abgehandelt werden.

      Die Aufforderung des Neoptolemos, den erschöpften Philoktet in Ruhe dem Schlaf zu überlassen (v. 826), findet ihre begriffliche Fortsetzung mit dem Beginn des Liedes: Ein direkter Anruf des Schlafes eröffnet die chorische Partie. Doch nicht nur die gedoppelte Wiederholung des Wortes Ὕπνος in Vers 827 macht die Kontextbezogenheit der chorischen Aussagen besonders deutlich: Indem der Schlaf als unkundig (ἀδαής) im Bereich von Schmerz (ὀδύνας) und Leiden (ἀλγέων) apostrophiert wird, ist die vorangegangene Szene mit ihrer drastischen Inszenierung von Philoktets Qualen verbalisiert und zugleich als vergangen gekennzeichnet. Nun solle eben der Schlaf kommen (ἔλθοις), wobei sich die Choreuten durch ἡμῖν (v. 828) bewusst als in die Situation involviert verstehen.3 Die Häufung der Adjektive (ἀδαής, εὐαής sowie das verdoppelte εὐαίων) erweckt neben der gezielten Ansprache des Gottes dabei den Eindruck eines kultischen Invokationshymnos, der die Epiphanie der betreffenden göttlichen Person herbeisehnt.

      Die angeschlossene konkrete Bitte in den Versen 830f. bietet im Einzelnen manche Schwierigkeit, v.a. hinsichtlich der konkreten Bedeutung von τάνδʼ αἴγλαν. Man wird wohl am besten mit JEBB αἴγλα als das „Traumlicht“4 verstehen, das der Schlaf dem Niedergesunkenen nun vorhalten soll. WEBSTER illustriert gerade mit Blick auf das abschließende Παιών (v. 832/3) – ein stereotypes Epitheton des Asklepios – die begrifflich-genealogische Verbindung, die der Chor an unserer Stelle zwischen Ὕπνος und dem Gott der Heilung samt seiner Tochter Αἴγλα herstellt. Die in Frage stehende Junktur τάνδʼ αἴγλαν kann so ebenfalls als mit der Heilung einhergehender „Schimmer von Gelassenheit“ verstanden werden, der Philoktet nun zuteilwerden solle bzw. bereits zuteil geworden ist.5 Allen Deutungen gemein ist die von Ὕπνος erbetene „Bewusstlosigkeit“ Philoktets, der im Schlaf nicht mehr von seinen akuten Leiden gequält werden soll; dass er dabei von der aktuellen Situation, d.h. dem sich anschlie­ßenden Gespräch des Chors mit Neoptolemos nichts wahrnehmen kann, ist implizit bereits angedeutet und, wie der Verlauf des Liedes zeigen wird, elementarer Bestandteil der Bitte an die Gottheit.

      Mit Vers 833 bricht der begonnene Invokationshymnos ab; der Chor richtet sein Augenmerk auf Neoptolemos und redet ihn mit ὦ τέκνον direkt an. Der Vokativ steht so im bewussten Kontrast zum vorangegangenen Ὕπνʼ (v. 827) und macht die Verschiebung der Perspektive deutlich: Nicht mehr der herbeigerufene Schlaf steht im Fokus des Interesses, sondern Neoptolemos und sein weiteres Vorgehen. Dieser solle sich nämlich, so die Aufforderung der Schiffsleute, über seinen eigenen Standpunkt klar werden (ποῦ στάσῃ), bedenken, welche Schritte er nun in Angriff nimmt (ποῖ βάσῃ), und wie mit den sich aus der Situation ergebenden Sachverhalten (τἀντεῦθεν) umgegangen werden soll. Der Chor scheint aus seiner Perspektive bereits die notwendigen Konsequenzen gezogen zu haben: Worauf, so die entschiedene Frage v. 836, müsse man noch warten; der richtige Augenblick, der Einsicht über alle