Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren (Neoptolemos, Chor, Philoktet) ausgeleuchtet wird.

      Damit Hand in Hand geht die zweite Verschiebung gegenüber dem Prolog: Während sich Odysseus und Neoptolemos in ihrer Unterredung vom Schicksal des Philoktet mehr oder minder unbeeindruckt zeigten, nimmt der emotional-mitleidende Blick in der lyrischen Passage eine zentrale Rolle ein. Hatte also der Prolog im Wesentlichen den intendierten Fortgang der Handlung im Blick, reflektiert die Auftrittsszenerie des Chors ein bedeutendes Moment der Handlung in emotional-bildhafter Ausgestaltung.

      Die Auftrittsszene des Chors ist so von einer besonderen Spannung geprägt: Als Fortführung struktureller Momente des Prologs unter Verschiebung entschei­dender Vorzeichen reiht sie sich in die dramatische Kontinuität, vervollständigt dabei allerdings durch eine Perspektiv- und Akzentverschiebung das Bild vom Prot­agonisten und der gesamten dramatischen Ausgangssituation.22 Die weitgreifende Imagination des Prot­agonisten innerhalb seiner Umwelt bildet dabei den Auftakt zum Auftritt Philoktets und dem damit verbundenen Fortschreiten der Handlung. Zudem ist, wie sich später zeigen wird, mit der breit entfalteten Mitleidsthematik ein Grundmotiv der chorischen Reflexion an unserer Stelle prominent etabliert.23

      Die ausführliche Passage nimmt damit eine besondere Gelenkfunktion zwischen dem Prolog und dem ersten Epeis­odion ein. Gerade mit Blick auf die sich anschließende Szene lässt sich weiterhin feststellen, dass die Imagination der widrigen Lebensumstände des Haupthelden in dessen ausgreifendem Monolog (v. 254–316) in gewisser Weise beantwortet und gespiegelt wird.24 Insofern vollzieht sich die Exposition des Heros, seiner Geschichte und seiner Situation in einem Dreischritt: Der Prolog hatte kurz sowohl den eigentlichen Akt der Aussetzung durch Odysseus thematisiert sowie einen ersten Blick auf die Figur Philoktets geworfen. Die lyrische Passage, v.a. die Kurzode v. 169–190, war demgegenüber trotz ihres Mangels an konkreter Erfahrung von bildhafter Drastik und detaillierter Ausgestaltung geprägt, während Philoktets eigene Worte erneut eine umfassende, d.h. seine Aussetzung, die Beschreibung der Insel sowie der momentanen Situation bietende Ausleuchtung aus der Perspektive des Betroffenen darstellen werden.25 Die lyrische Passage ist so motivisch und thematisch geklammert.26

      So vielgestaltig die Passage in formeller Hinsicht ist, so polyvalent erscheint sie mit Blick auf die dramaturgischen Implikationen. Zusammengefasst soll festgehalten werden: Sophokles versteht es, der Auftrittsszene des Chors als einer traditionell an Handlungsfortschritt armen Stelle innerhalb des dramatischen Ablaufs dennoch besondere dramatische Brisanz und Dynamik zu verleihen.27 Die Rahmung der rein reflektierenden Partie (v. 169–190) durch die dialogisch gestalteten Strophenpaare verankert dabei die Imagination fest im Ablauf des Gesprächs und der Handlungsentwicklung. Mit der oben erläuterten motivisch-thematischen Klammerstellung ist gerade der reflektierend-imaginative Teil auf dramatische Fernwirkung konzipiert und reiht sich als zweites, ausführliches und wesentlich emotionales Moment in die ausgreifende Schilderung des Prot­agonisten.

      Mit der Gestaltung der Partie als einer umfangreichen Komposition von drei formal unterschiedenen Abschnitten setzt Sophokles des Weiteren gleich zu Beginn des Stücks einen wesentlichen Akzent, der den Auftritt des Prot­agonisten umso wirkungsvoller in Szene setzt. Dass mit der Gesprächssituation Neoptolemos-Chor zudem eine typische und die weiteren chorischen Partien entscheidend prägende Konstellation etabliert ist, wird sich im Fortgang des Stückes zeigen.

      Erstes Epeis­odion (v. 219–675)1

      Unter zwei Gesichtspunkten ist das folgende Epeis­odion für unsere Untersuchung von Bedeutung: Zum einen überrascht seine ausgreifende Länge: Erst nach Vers 676 – also nach mehr als 450 Versen – werden mit Philoktet und Neoptolemos die zentralen Akteure die Bühne verlassen und der Chor sein (erstes) Stasimon beginnen.2 Das umfangreiche Epeis­odion umfasst dabei das erste Gespräch zwischen Neoptolemos und dem aufgetretenen Philoktet, das Erscheinen und den Abtritt des von Odysseus bereits im Prolog angekündigten (vorgeblichen) Kaufmanns (v. 126 bzw. 627) sowie eine erneute Unterredung der beiden verbliebenen Personen. Sophokles lässt dabei Auf- und Abtritt des dritten Schauspielers zu einem wesentlichen Strukturmoment des Epeis­odions werden, das die Handlung bedeutend voranbringt: Die durch den Kaufmann intendierte Eile (vgl. v. 620) prägt das weitere Geschehen und bietet zur vorangegangenen Unterredung zwischen Neoptolemos und Philoktet in ihrer ausgreifenden Weitschweifigkeit einen wirkungsvollen und dynamischen Gegenpol.

      Von besonderem Interesse sind weiterhin die im besten Sinne sparsam,3 aber mit besonderer Absicht eingebundenen chorischen Äußerungen innerhalb des ersten Epeis­odions. Neben der standardisierten Auftrittsankündigung v. 539ff. und der kurzen, aber bedeutsamen Kommentierung v. 317f. fallen dabei besonders die beiden metrisch korrespondierenden Strophen v. 391–402 sowie 506–518 ins Auge. Machen wir uns vor einer kurzen Analyse dieser Partien den Ablauf der Situation überblicksartig klar.

      Mit dem Auftritt des Prot­agonisten in Vers 219 entspinnt sich zwischen ihm und Neoptolemos eine erste Unterredung, in der die beiden Gesprächspartner die nötigen Informationen untereinander austauschen. Zunächst ist es an Philoktet, Herkunft, Namen und Zielort seines Gegenübers zu erfahren: Die Freude, Griechen getroffen zu haben (v. 234f.), wird dabei durch die Überraschung, gerade den Sohn Achills vor sich zu wissen, noch übertroffen (v. 242) und findet im Erstaunen über die Teilnahme des jungen Mannes am Kriegszug gegen Troia seinen Höhepunkt (v. 246). Neoptolemos – ganz seiner Rolle innerhalb der Intrige gemäß – gibt sich unwissend (v. 253) und bietet so dem Prot­agonisten die Möglichkeit zu einer umfangreichen Vorstellung seiner Person, der Vorgeschichte und der momentanen Situation (v. 254–316). Schon oben wurde auf die besondere Einbindung dieses Monologs in den Ablauf der expositorischen Teile des Dramenbeginns hingewiesen. Es reicht daher, Folgendes zu bemerken: Die Zuschauer – ebenso wie die an der Szene beteiligten dramatischen Personen – erfahren aus dem Mund Philoktets keine wesentlichen neuen Informationen; die emotionale Ausgestaltung der sogar Neoptolemos bereits bekannten Fakten (Philoktets Identität, seine Krankheit, Aussetzung, Ernährung auf der Insel sowie deren Beschaffenheit und die daraus folgende Einsamkeit) lässt allerdings aufhorchen. Indem hier der Betroffene selbst zum ersten Mal umfangreich seine Perspektive der Dinge darlegt, wird aus dem bisher maßgeblichen Reden über den Prot­agonisten die Selbstdarstellung des entscheidenden Charakters. Dass mit den Ausführungen Philoktets die Imagination des Chors in gewisser Weise gespiegelt bzw. beantwortet wird, ist oben schon erwähnt worden.

      Es überrascht daher nicht, dass die erste Kommentierung des Monologs (v. 317f.) gerade dem Chorführer zufällt; vielmehr ist dieser anscheinend standardisierte Hinweis auf die Sympathie mit dem Sprechenden bewusst in den Zusammenhang eingepasst.4 Machen wir uns klar: Philoktet hatte zum Abschluss seiner Ausführungen dargelegt, wie zufällig und unfreiwillig auf Lemnos Gelandete ihn zwar mit Worten bedauerten, ihm Essen und Kleidung bereitstellten, ihn jedoch trotz seiner Bitten nicht nach Hause brächten (v. 305ff.). Nach einer zusammenfassenden Verfluchung der aus Sicht des Prot­agonisten für seine Leiden verantwortlichen Heerführer bekundet schließlich der Chor sein Mitgefühl: „Auch ich scheine gleich den hier angekommenen Fremden dich zu bemitleiden, Sohn des Poias“ (v. 317f.). Bemerkenswert ist dabei der Rückgriff auf den Beginn des zweiten Strophenpaars: Hatte dort die zweite Strophe in Vers 169 mit den Worten οἰκτίρω νιν ἔγωγʼ – also der betonten Formulierung einer eigenen Position – begonnen, so bietet die Formulierung an unserer Stelle κἀγὼ ἐποικτίρειν σε sogar eine wörtliche Reminiszenz. Die kurze, formal dem Standard chorischer Kommentierung folgende Äußerung ruft so erneut die ausgreifende Imagination und deren emotionale Färbung ins Gedächtnis; die Ausführungen des Prot­agonisten werden endgültig zur lyrischen Partie vom Eingang des Stücks in Beziehung gesetzt, geradezu gerahmt und damit fest im motivischen Ablauf der einzelnen Teile verortet.

      Die Frage, ob der Chor an unserer Stelle echtes Mitleid bekundet oder geradezu heuchelnd zum Mitspieler der Intrige wird, ist so schwierig wie umstritten – und für die vorliegende Untersuchung von geringer Bedeutung. Ein rascher Blick auf die gängigen Ansichten soll genügen: Während BURTON bemerkt „the coryphaeus comments on Philoctetesʼ speech with an expression of pity“5 und KAMERBEEK vorsichtig anmerkt: „some irony is perhaps to be perceived“,6 ist sich SCHMIDT sicher:

      Es bleibt völlig