Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Text und Textkritik

      Die lyrischen Partien der Tragödie gehören bereits auf Grund ihrer sprachlichen Schwierigkeit zu den textkritisch umstrittensten Abschnitten der jeweiligen Stücke. Während Gestalt und Sinn einzelner Abschnitte bereits innerhalb der hellenistischen Redaktion der Texte Anlass zu textkritischen Bemerkungen und vorgeschlagenen Änderungen boten (die uns zum Teil in den Scholien greifbar sind)1, ist im Besonderen die moderne Philologie von Beginn ihrer Beschäftigung mit Sophokles an den vielfältigen Schwierigkeiten des Texts zunehmend mit einer Flut an Konjekturen begegnet. Eine philologische, d.h. textnahe Auseinandersetzung mit den Tragödien und speziell den Chorpartien wird sich daher neben divergierenden Lesarten und größeren Textausfällen auch immer wieder den bald geglückten, bald zweifelhaften Rekonstruktionsversuchen moderner Gelehrter widmen müssen.

      Nach PEARSON liegen mit der Ausgabe von LLOYD-JONES/WILSON die vollständig überlieferten Tragödien unseres Autors bereits in der zweiten Edition innerhalb der Oxford Classical Texts (OCT) vor. Als Zielpublikum ihrer Ausgabe (sowie der gesamten OCT) schwebt ihnen dabei „a wider circle of readers“2 vor, der sich nicht allein auf Mitglieder des akademischen Betriebs („professional scholars“) beschränke.3 Die selbstgestellte Aufgabe, diesem weiteren Adressatenkreis einen Sophoklestext zu bieten, der ohne größere Unterbrechungen gelesen werden kann,4 lässt die Herausgeber schließlich formulieren: „This policy has led us to adopt a number of emendations which may seem radical.“5 In der Tat zeigt sich bei der genauen Interpretation einiger (Chor-)Passagen, dass LLOYD-JONES/WILSON dazu neigen, sich gegen einen gut oder gar einhellig überlieferten Textbestand und für eine Konjektur oder einen anderen Eingriff in den Text zu entscheiden.6 Auch mit dem Setzen von cruces zur Bezeichnung verderbter Stellen sind sie bei weitem vorsichtiger als noch PEARSON,7 der im Ganzen gesehen einen wesentlich konservativeren, d.h. strenger am überlieferten Bestand orientierten Text bietet. Man fühlt sich daher gezwungen, der Kritik, die MARKANTONATOS grundsätzlich an modernen Editoren sowie im Speziellen an der Ausgabe von LLOYD-JONES/WILSON übt, zumindest in Teilen zuzustimmen:

      It is sad that some modern editors of Sophocles have chosen to deviate from the time-honored paradosis, putting all their energies into proposing attractive but inessential changes so as to prove that the lectio tradita is incorrect. […] Lloyd-Jones and Wilson have produced a text which is more readable, but their willingness to accept uncertain readings as safe restorations of Sophoclesʼ words undermines their achievement.8

      Die textkritischen Ausführungen im Rahmen der Einzelinterpretationen sollen dabei jeweils zum Verständnis der einzelnen Stelle beitragen; es ist dabei von Zeit zu Zeit geraten, dem Text von LLOYD-JONES/WILSON eine Alternative entgegenzusetzen. Im Umgang mit verderbten Stellen soll hier allerdings nicht der Anspruch erhoben werden, letztgültige Entscheidungen zu fällen.

      3.3 Abkürzungen, Zitation u.Ä.

      Wie bereits in Teil A werden in den Einzelinterpretationen die zitierten Werke bei ihrer ersten Nennung mit vollem Titel zitiert, danach mit Verfassernamen und Jahreszahl.

      Einschlägige Nachschlagewerke werden wie folgt abgekürzt:

LSJ A Greek-English Lexicon compiled by H.G. LIDDELL and R. SCOTT […] revised and augmented by H. St. JONES, 1961, Oxford.
KG R. KÜHNER/B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, Satzlehre (zwei Bände) 41955, Hannover.
DKP Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike auf der Grundlage von Paulyʼs Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, bearb. und hrsg. v. K. ZIEGLER, W. SONTHEIMER und H. GÄRTNER, Stuttgart 1964–1975.
DNP Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, hrsg. v. H. CANCIK/H. SCHNEIDER, Stuttgart 1996–2002.
RE Paulyʼs Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, neue Bearb. beg. v. G. WISSOWA, fortges. v. W. KROLL u. K. MITTELHAUS, hrsg. v. K. ZIEGLER, Stuttgart u.a. 1893ff.
LIMC Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, Zürich u.a. 1981ff.
B Einzelinterpretationen sowie Gesamtschauen der Großabschnitte

      I. Chöre wehrfähiger Männer

      1. Philoktet

      Vorbemerkungen: Inhalt, Personen, Struktur

      Neben dem Oidipus auf Kolonos ist die vorliegende Tragödie die einzige in Sophoklesʼ überliefertem Werk, deren Aufführung sich sicher, d.h. auf Basis externer Quellen, datieren lässt: Sie fand im Jahr 409 im Rahmen der städtischen Dionysien statt.1 Zunächst soll hier kurz die Handlung repetiert werden.

      Philoktet, der vom sterbenden Herakles als Dank für letzte Dienste seinen Bogen samt Pfeilen geschenkt bekommen hatte, war den Griechen vor Troia zu einer unerträglichen Last geworden: Auf Grund eines Schlangenbisses am Fuß verletzt war er zum einen militärisch nicht mehr zu verwenden, zum anderen verhinderten seine Schmerzensäußerungen sogar die Durchführung kultischer Handlungen im Heereslager (vgl. v. 8f.). Die Atriden beschlossen daraufhin, ihn auf der Insel Lemnos auszusetzen, wobei Odysseus diese Aufgabe übernahm. Philoktet steht seitdem den militärischen Führern sowie insbesondere Odysseus mit besonderer Abneigung gegenüber.

      Als die Belagerung Troias nach neun Jahren schließlich keinen erkennbaren Fortschritt mehr zeigt, erinnern sich die Griechen eines Orakels: Zur Eroberung der Stadt seien Philoktet, sein Bogen sowie die zugehörigen Pfeile notwendig.2 Auch die Rückholaktion übernimmt Odysseus, dem Neoptolemos, Achills Sohn, zur Seite gestellt ist. Das vorliegende Drama nun schildert beginnend mit der Ankunft dieser griechischen Gesandtschaft die Geschehnisse auf Lemnos selbst: Odysseus, der um Philoktets Groll gegen ihn weiß, kann Neoptolemos davon überzeugen, mit einer List das Vertrauen des Einsiedlers zu gewinnen, um so in den Besitz des Bogens zu kommen und die Rückführung nach Troia vorzube­reiten. Trotz seiner moralischen Vorbehalte willigt Neoptolemos ein und führt Odysseusʼ Plan zunächst zielstrebig aus, bis ein akuter Krankheitsausbruch bei Philoktet sein Mitleid erregt und er sich schließlich in offener Konfrontation mit Odysseus dazu durchringt, den zwischenzeitlich an sich genommenen Bogen an Philoktet zurückzugeben und ihm die Fahrt in die Heimat in Aussicht zu stellen. Erst der Auftritt des Herakles als eines deus ex machina kann Philoktet kurz vor der in Angriff genommenen Abfahrt davon überzeugen, sich dem Willen der Heeresführung zu beugen und mit Neoptolemos nach Troia zu segeln. Mit dem Auszug des Personals in Richtung Kriegsschauplatz endet die Tragödie.

      Das vorliegende Drama ist, wie noch gezeigt werden wird, gerade in formaler Hinsicht bemerkenswert:3 Der im Rahmen der uns überlieferten Tragödien unseres Dichters einmalige Einsatz des deus ex machina,4 die fast ausschließliche Dialogisierung chorischer Partien und die besonderen Implikationen, die die von Odysseus erdachte Intrige sowie ihr Scheitern für den Ablauf des Stücks mit sich bringen, werden dabei im Folgenden besonders zu untersuchen sein. Eine Entscheidung unseres Dichters hebt sein Philoktet-Drama gegenüber den Bearbeitungen desselben Stoffs durch die beiden anderen Tragiker5 heraus: Sophokles lässt Lemnos unbewohnt sein, sodass Philoktet als Einsiedler sein Leben fristet.6 Den Chor, der so nicht aus Einwohnern der Insel bestehen kann, bilden, wie bereits erwähnt, die Schiffsleute des Neoptolemos, die zu ihrem Herrn in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis stehen, gegenüber Philoktet allerdings eine je eigene Haltung an den Tag legen. Dass ihnen dabei einzig in der Mitte der Tragödie eine rein chorische Reflexion in Form eines Stasimons zukommt, ist ein besonders eigenwilliges Kompositionsmoment, dessen dramaturgische Implikationen zu beleuchten sein werden.

      Zu den bereits erwähnten, genuin mythologischen Personen – d.h. solchen, die namentlich aus dem troianischen Sagenkreis bekannt sind – tritt des Weiteren ein Späher auf, dem als vermeintlichem Kaufmann in der durch Odysseus lancierten Intrige besondere Bedeutung zukommt.7