Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Allgemeinen sowie bestimmte performative Momente der antiken Tragödie im Speziellen, davon ausgehen, dass die in den Liedern vorherrschenden Effekte und Emotionen auch in der Vertonung ihren Niederschlag gefunden haben und so die Bühnenwirkung des jeweiligen Stückes verstärkten.31

      Während die vom Chorführer vorgetragenen Sprechverse (meist32) eine direkte Kommunikation mit den Personen des Dramas darstellen, steht der Chor während seiner Lieder allein im Zentrum der Aufmerksamkeit und hat keinen direkten Gesprächspartner, mit dem ein Austausch zustande käme.33 In der Regel befindet sich während eines Chorliedes keine Person mehr auf der Bühne. Andernfalls tritt diese in den Hintergrund oder agiert stumm, wobei die Kommentierung der Handlungen dem Chor zufällt.34 Die Chorlieder in den Tragödien unseres Autors werden dabei – grob gesagt – inhaltlich durch Reflexion, Deutung und Verarbeitung sowie Vorahnung der dramatischen Handlung bestimmt;35 sie stehen so der Handlung als solcher zunächst gegenüber und ergänzen sie. Zu zeigen, in welchem Verhältnis diese Passagen zur Handlung, zum dramatischen Geschehen und den einzelnen Personen stehen, ist Aufgabe der Einzelinterpretationen im Hauptteil der vorliegenden Arbeit.36 Der folgende Abschnitt wird sich mit verschiedenen Techniken bzw. Strategien dieser spezifisch chorischen Reflexion beschäftigen.

      IV. Chorische Reflexion – Reflexionsstrategien – Dramaturgische Funktionalisierung

      1. Reflexion und Handlung

      Innerhalb der Tragödie besteht, wie bereits festgehalten, zwischen Chor- und Sprechpartien1 nicht nur eine formale, für den ursprünglichen Rezipienten audiovisuell wahrnehmbare,2 sondern auch eine inhaltliche Differenz: Als im Wesentlichen reflektierende Partien eines Kollektivs3 stehen die lyrischen Abschnitte des Chors den eigentlichen dramatischen, d.h. die Aktion der Akteure darstellenden Teilen der Tragödie gegenüber.4

      Da sich mit dem Chor ein im personellen Rahmen des dargestellten Mythos verorteter Sprecher, eine dramatis persona äußert, bilden den Gegenstand der Reflexion dabei allerdings letztlich das Bühnengeschehen bzw. mit ihm in Zusammenhang stehende Momente oder Phänomene. Auch wenn der Bezug der chorischen Partie zum dramatischen Rahmen nicht unmittelbar ersichtlich ist oder sich erst im Lauf des Liedes herauskristallisiert,5 ist bei unserem Dichter durchgängig ein Bezug der chorischen Reflexion zum Stückganzen bzw. zu entscheidenden Motiven festzustellen. Anders gesagt: Die chorische Reflexion steht immer in einem klar zu umreißenden Verhältnis zur eigentlichen Handlung oder zu ihr zu Grunde liegenden Motiven. Um den Nachweis der konkreten Anknüpfungspunkte und die Verortung der jeweiligen Chorpartien haben sich im Besonderen die dem (reinen) dramatis persona-Konzept verpflichteten Arbeiten verdient gemacht.6 Hinter die so deutlich vor Augen geführte Einbindung der chorischen Partien als Äußerungen einer dramatis persona zurückzufallen und, wie es die Sprachrohr-Theorie oder die Identifikation des Chors mit dem idealisierten Zuschauer insinuierte, die Chorpartien gänzlich von der Handlung zu trennen, ist auch angesichts der von der neueren Forschung betonten „otherness“ des Phänomens Chor und seiner Rekontextualisierung im politisch-kultisch-sozialen Umfeld nicht statthaft. Die Analysen des Hauptteils werden die chorischen Partien und ihre Reflexion dementsprechend immer als Äußerung der im Geschehen verorteten Choreuten verstehen.

      Das Chorlied ist weiterhin, wie GRUBER formuliert, „der autonome Kommunikationsraum für die Lenkung der Perspektive des Zuschauers“.7 Dass den Liedern dabei genuin dramaturgische Funktionen wie die Steigerung oder Drosselung des dramatischen Tempos sowie die Gliederung und Strukturierung gewisser Abschnitte des Dramas oder des ganzen Stücks zukommen, ist folgerichtig; die Einzelinterpretationen des Hauptteils werden im Besonderen diese dramaturgischen Implikationen einer jeden Partie herauszustellen versuchen.

      Bereits GRUBER gibt daraufhin einen kurzen Abriss verschiedener Punkte, die in der Reflexion des Chors eine Rolle spielen können: die Einblendung verschiedener Zeitebenen, die Eröffnung einer anderen Perspektive hinsichtlich des Handlungsraums sowie eine Interpretation des Geschehens nach „vertrauten Deutungsmustern“.8 Damit ist in aller Kürze bereits ein gewisses Panorama chorischer Reflexionsinhalte und -strategien umrissen, die sich auch bei unserem Autor finden. Um der tatsächlichen Fülle an reflektierenden Partien im Werk des Sophokles gerecht zu werden und angesichts der geradezu „chamäleongleiche[n] Multifunktionalität“, durch die sich nach WILLMS der Chor im attischen Drama auszeichnete,9 ist es geraten, der Untersuchung der einzelnen Dramen und Partien eine grundsätzliche Kategorisierung vorauszuschicken, die die zielgerichtete Untersuchung der Einzelpassagen und schließlich eine zusammenfassende Einordnung der behandelten Partien ermöglichen wird.

      Mit den folgenden grundsätzlichen Überlegungen soll so ein theoretischer Rahmen eröffnet werden, der zum einen mögliche Vorgehensweisen chorischer Reflexion vorstellen, zum anderen ihre basale dramaturgische Funktionalisierung kurz anreißen wird. Mit Hilfe des so entwickelten Instrumentariums können die Analysen des Hauptteils die konkrete Ausprägung der hier allgemein entworfenen Sachverhalte untersuchen und ein detailliertes Bild der jeweiligen dramaturgischen Implikationen nachzeichnen.

      Neben das bereits erläuterte und mit Blick auf die vorliegenden Tragödien konkretisierte Spektrum der Rollenidentität des Chors, in das die Person des Chors sowie seine Beziehung zu den Akteuren innerhalb des gesamten Stücks eingeordnet werden kann, treten dabei zwei weitere Spektren, die die Einordnung der Chorpassagen selbst ermöglichen sollen.

      2. Spektrum II: Reflexionsstrategien

      2.1 Begriffsklärung

      Unter „Reflexionsstrategien“ soll der je eigene Zugang verstanden werden, den die Chorpartie bei der Beschäftigung mit ihrem Gegenstand beschreitet und der so die Chorpassage nicht nur in Bezug auf die in ihr verhandelten Momente der Handlung, sondern auch mit Blick auf ihre eigene sprachliche und poetische Gestalt maßgeblich prägt. Anders gesagt: Mit Reflexionsstrategie soll im Wesentlichen der Ansatz gemeint sein, der für die entsprechende Partie oder einen Teil derselben programmatische Bedeutung hat.

      Mit Blick auf die Vielfalt und Verschiedenheit der chorischen Reflexionen unseres Autors lässt sich guten Gewissens keine Einteilung in fest umrissene Typen oder Kategorien vornehmen.1 Vielmehr soll hier versucht werden, das weite Spektrum verschiedener Reflexionsstrategien bzw. -ansätze zunächst von seinen Enden her aufzuzeigen. Diese im Folgenden aufgeführten Randpunkte verstehen sich dabei als geradezu theoretische Extreme, die sich einerseits gegenseitig kontrastiv definieren, andererseits in der konkreten Verwirklichung nie in Reinform auftreten; es wird daher den Einzelanalysen des Hauptteils zukommen, die jeweiligen Partien innerhalb dieses so umrissenen Spektrums einzuordnen.

      Als Rahmenpunkte des Spektrums der Reflexionsstrategien sollen hier das Konzept einer thematisch-begrifflichen von einer imaginativ-visualisierenden Reflexion unterschieden werden. Diese Distinktion erfolgt dabei zwar zunächst abstrakt, versteht sich aber als an der Realität der Chorpassagen entwickelt.2 Mit Blick auf die Interpretationen des Hauptteils sind der Beschreibung des jeweiligen Reflexionsansatzes zudem einige die Interpretation leitende Fragen beigegeben; diese Leitfragen konstituieren so den methodischen Rahmen der Einzelanalysen.

      2.2 Thematisch-begriffliche Reflexion

      Unter thematisch-begrifflicher Reflexion verstehe ich eine chorische Auseinandersetzung mit dem jeweiligen, der Handlung entspringenden bzw. mit ihr in Verbindung stehenden Gegenstand, die im Wesentlichen bestrebt ist, ein (oder mehrere) mehr oder minder abstraktes Thema (bzw. Themen) zu verhandeln. Ein solcher Ansatz bedient sich dabei gedanklicher und weitestgehend ungegenständlicher Konzepte: Geleitet von einer teils deskriptiven, teils argumentativen Logik versucht eine derartige Reflexion, durch den Aufweis von Gründen, Folgerungen, Einschränkungen, Beweisen u.Ä. das in Rede stehende Thema darzustellen, es argumentativ zu durchdringen und gegebenenfalls die Position des Chors dazu zu markieren.

      Die Verbalisierung des Themas selbst kann dabei an verschiedenen Stellen innerhalb der reflektierenden Partie erfolgen, was den gedanklichen Aufbau der Passage wesentlich prägt. So kann eine Themenangabe durch ein Schlagwort bereits zu Beginn der Partie erfolgen,1 die Mitte der Ausführungen bilden oder das Ende der Reflexion markieren. Ebenso ist es möglich, geradezu leitmotivisch an verschiedenen Punkten der Passage