Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


Скачать книгу

wie sein spezifischer Charakter ausgeformt ist, inwiefern dieser Charakter konsistent ist und in welchem Verhältnis schließlich der so als Mitspieler verstandene Chor zu den anderen Akteuren sowie den Geschehnissen steht, kurz: die Untersuchung des Chors als dramatis persona ist die selbstgesteckte Aufgabe zahlloser Analysen.11 Besonderen Rückhalt erhält diese Aufgabenstellung dabei durch die Bemerkung des Aristoteles zum richtigen Gebrauch des Chors12, die man so zu untermauern sucht.13

      Als umfassendere Studien in diesem Bereich zu mehreren bzw. allen erhaltenen Tragödien unseres Autors verstehen sich dabei die Arbeiten von GARDINER14 und PAULSEN15. So konstatiert erstere eine Fehlentwicklung, die sich bei der ausschließlichen Beschäftigung mit den poetischen Qualitäten der analysierten Chorpartien einstelle:

      Yet in these examinations of the lyrics the chorusʼ character has been largely neglected, to such an extent that the odes often seem to take on an existence apart from the chorus that sing them.16

      Die Aufgabe ihrer Arbeit charakterisiert sie demnach folgendermaßen:

      This investigation therefore attempts to redress the existing imbalance between the study of poetry and the study of character by analyzing the roles of the chorus in each of Sophoclesʼ extant tragedies and determining the extent to which he meant the audience to perceive the chorus as a character in the play.17

      Auch PAULSEN sieht das Hauptanliegen seiner Studie mit Rückgriff auf die oben ausgeführte funktionale Dreiteilung

      […] in einer Untersuchung der ersten der genannten Funktionen. Es soll bewiesen werden, daß der Chor Mitspieler und Person des Stückes ist und somit den Schauspielern vergleichbar.18

      Eine besonders radikale Position vertritt dabei MÜLLER: Er kommt zunächst, vornehmlich ausgehend von seiner Interpretation der Antigone, zu dem Ergebnis „1. Der Chor ist eine konsequent denkende Person. 2. Alle Äußerungen des Chors dienen dem Dichter dazu, Gestalt und Größe der Prot­agonistin herauszuarbeiten“.19 Er sieht damit das aristotelische Postulat vom mitspielenden Chor verwirklicht20 und wagt die vorsichtige Generalisierung: „Es ist zu vermuten, daß der Chor in den anderen Tragödien des Sophokles keine grundsätzlich andere Funktion hat“.21

      Im Gegensatz dazu steht der leitende Gesichtspunkt seines Antigone-Kommentars: Dort will MÜLLER gerade aus den Aussagen des als einer dramatis persona verstandenen Chors dennoch die Stimme des Dichters erschließen und so auf Basis des gefundenen „Doppelsinns“ den „theologischen Sinn der Tragödie“ herausarbeiten.22 Die genuin dramaturgische Komponente der einzelnen Partien zu untersuchen, liegt ihm allerdings fern. Während er es rundheraus ablehnt, in den Aussagen des Chors die eigene Meinung des Dichters zu sehen23 – also dem Chor die dritte Funktion vollständig abspricht –, glaubt er dennoch, durch die Annahme des Zweit- und Drittsinns geradezu e negativo die Ansichten des Dichters sowie dessen Einschätzung des Geschehens aus den Chorpartien herausarbeiten zu können.24 Die Ergebnisse – gerade in seiner Interpretation der Antigone – sind im Einzelnen allerdings zweifelhalft.25

      Einen ähnlichen Zugang wie GARDINER und PAULSEN beschreitet bereits KIRKWOOD,26 wenn er auch einen für diese Untersuchung entscheidenden Gesichtspunkt hinzufügt. Einer simplen Gleichsetzung der Reflexionen des Chors mit denen des Dichters erteilt er dabei zunächst eine Absage;27 für ihn steht vielmehr der Personencharakter des Chors im Vordergrund. So gibt er an, die Aussagen des Chors untersuchen zu wollen als

      utterances by characters in plays – strange characters, no doubt, with a penchant for lyrics and abstraction, but characters nevertheless, neither omniscient nor stupid, but limited like other characters by the natural limitations of their position and their interest in the action.28

      Dass damit nicht das gesamte Spektrum der chorischen Präsenz abgedeckt werden kann, gesteht er ein: „We shall find that this approach is not altogether sufficient in itself and that there is a degree of abstraction in some odes that does not reflect the personality of the particular choral group“.29 Ausgehend von der spezifischen Wirkung der kontrastiv vor der entscheidenden katastrophalen Wendung positionierten Lieder im Aias (zweites Stasimon), der Antigone (viertes Stasimon) und dem Oidipus Tyrannos (drittes Stasimon) hält er zunächst fest: „They are integral and contributing parts in the dramatic structure“,30 bevor er schließlich ganz zu Recht verallgemeinert:

      […] these odes are not isolated phenomena but simply the most striking examples of a customary Sophoclean technique in which the choral odes influence the rhythm of the play by a contrast or some similar structural effect.31

      Während KIRKWOOD so die Sprachrohrfunktion des Chors ablehnt, verortet er sich im Rahmen der von KRANZ eröffneten Trias zwischen der ersten und zweiten Funktion des Chors.

      Gemein ist den aufgeführten Ansätzen dabei, dass sie von einer durchgängig kohärenten Charakterzeichnung des Chors ausgehen, der so als ein Akteur unter anderen am dramatischen Geschehen partizipiert und dem Dichter als zusätzlicher Schauspieler zur Verfügung steht. Inwiefern sie dabei einerseits dem aristotelischen Postulat, andererseits der Realität der Tragödien gerecht werden, bleibt indes fraglich.32 Die der reinen dramatis persona-Theorie verhaftete Ausdeutung hat daher in der Forschung einigen Widerstand hervorgerufen.

      Besonderen Fokus auf die eher strukturellen Momente des Chors und damit den zweiten der von KRANZ aufgeführten Punkte legt dagegen BURTON,33 der als Ziel seiner Untersuchung angibt:

      […] to determine their [d.h. der Chorlieder] different kind of relevance, their functions as instruments of dramatic irony, […] and their effects upon the minds and emotions of audience and reader as required by the dramatist at each stage in the movement of his plots.34

      Er geht dabei von einer fundamentalen Differenz zwischen Chor und Akteuren aus: „In its role as singers the chorus is distinct from the actors“35 sowie:

      […] the chorus as singers are kept distinct from the other dramatis personae and […] this distinction is due mainly to their being a group, not an individual.36

      Hinsichtlich der Kohärenz der Person des Chors ergeben sich aus dieser Einsicht besondere Schlussfolgerungen:

      Further, since the chorus has a group personality, we do not expect from it the same consistency or coherence of character as we expect from an individual.37

      Gegen das strenge Diktum des Chors als reinen Mitspielers betont BURTON so die dramaturgische Einbindung der Chorlieder als Strukturmoment der Tragödie; gelegentliche Inkongruenzen in der Zeichnung des Charakters nimmt er dabei mit Blick auf die vom Dichter intendierten dramaturgischen Implikationen – meines Erachtens zu Recht – in Kauf.38

      Dieser eher formale Ansatz, der die verschiedenen Formteile der Tragödie im Einzelnen beleuchtet und damit einen Beitrag zum Verständnis des jeweiligen Stücks leisten möchte, ist mit Blick auf Sophokles – abgesehen von Kommentaren zu einzelnen Tragödien39 – in der Folgezeit etwas in den Hintergrund getreten.40 Die neuere, vor allem angelsächsische Forschung, hat – bedingt durch ein verstärktes Interesse an den performativen Komponenten des antiken Dramas – einen anderen Ansatz gefunden, der im Besonderen die rituellen Dimensionen der chorischen Präsenz innerhalb der Tragödie betont und diese im politischen Kontext der Gattung sowie einem generell soziokulturellen Rahmen zu verorten sucht.41 Entscheidenden Anstoß bei dieser Rekontextualisierung gaben dabei WINKLER und ZEITLIN.42

      GOULD sucht im Anschluss daran ganz allgemein den Chor als ein zentrales Moment der Tragödie43 und „des Tragischen“44 neu zu denken und betont im Besonderen die „Andersartigkeit“ („otherness“) des Chors, die er allerdings nicht nur auf den bereits von BURTON entwickelten Gegensatz zwischen den Einzelakteuren und dem Kollektiv „Chor“ beschränkt, sondern sozio-politisch ausdeutet:

      [T]he ‘otherness’ of the chorus, its essential role within the tragic fiction, resides indeed in its giving collective expression to an experience alternative, even opposed, to that of the ‘heroic’ figures. […] That ‘otherness’ of experience is indeed tied to its being the experience of a ‘community’, but that community is not that of the sovereign (adult, male) citizen-body.45

      Diese Präsenz einer in einer größeren sozialen