Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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genuin rezeptionsästhetischen Standpunkt) nähert, gibt es in der Nachfolge von BURTON keine Gesamtschau der sophokleischen Chorlieder, deren Fokus auf einer textnahen Interpretation der Chorpartien sowie ihrer dramaturgischen Funktionalisierung läge.86

      III. Der Chor: Phänomen – Dichtung – Formteil

      1. Sitz im Leben: song-and-dance culture, Kult, Polis

      Es ist im Wesentlichen das Verdienst der philologischen und historischen Forschung im Anschluss an den performative turn der späten sechziger und frühen siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, die historischen, soziokulturellen und politischen Begleitumstände des Phänomens „Chor“ erneut in Erinnerung gerufen und es so innerhalb der Lebenswelt der griechischen Antike rekontextualisiert zu haben. Mit Blick auf die bereits im Forschungsabriss erwähnten Arbeiten im Allgemeinen sowie im Besonderen auf GRUBERs einleitende Ausführungen zur Einordnung des Chors in der griechischen song-and-dance culture und – mit einigen der speziellen Intention geschuldeten Abstrichen – seine Bemerkungen zum Chor als „Boden der Tragödie“1 kann sich der folgende Abriss in aller Kürze auf einige entscheidende Punkte beschränken. Dabei ist nicht intendiert, eine umfassende Einordnung der angesprochenen Phänomene zu geben oder größere historische Entwicklungslinien nachzuzeichnen, sondern einzig einige Aspekte, die zum Verständnis des methodischen Rahmens dieser Arbeit sowie der Einzelanalysen notwendig sind, ins Bewusstsein zu rufen.

      Chor, Chorgesang und (chorischer) Tanz waren bereits seit frühester Zeit2 ein gemeingriechisches, im Alltag fest verankertes Kulturphänomen;3 anders gesagt: Das Phänomen „Chor“ ist konstitutiver Bestandteil der als song-and-dance culture passend umschriebenen griechischen Gesellschaftsordnung. Als fester Bestandteil rituell-kultischer Anlässe und Handlungen kann besonders die Bedeutung des Chors für die griechische Religiosität kaum überschätzt werden:4 Als Repräsentation eines kultischen Kollektivs kommt ihm dabei eine besonders integrative und identitätsstiftende Rolle zu, der zudem das Moment der Öffentlichkeit innewohnt.5 Die Zuordnung gewisser Chöre und Formen chorischer Dichtung zu bestimmten kultischen Festen und ihre Assoziierung mit den entsprechenden Gottheiten ist dabei konstitutiv und prägt die Chorlyrik, der sich der folgende Abschnitt etwas genauer widmen wird, maßgeblich.

      Die solchermaßen im kulturellen Horizont verorteten Chöre waren dabei nach Kriterien wie Geschlecht und Alter der Choreuten homogen zusammengesetzt und rekrutierten sich aus fest umrissenen Segmenten der Gesellschaft. Vor allem Knaben- bzw. Heranwachsenden- sowie Mädchenchöre waren dabei innerhalb der Erziehung und Bildung der Jugend von enormer Bedeutung.6 GRUBER betont dabei im Besonderen die Rolle der Erziehung zur „Ordnung“ (τάξις), die durch die chorische (bei jungen Männern: proto-militärische) Ausbildung geleistet wurde; er geht dabei soweit, anzunehmen, dass man die Begriffe „Chor“ und „Ordnung“ „im Verständnis der Antike […] fast gleichsetzen kann“.7

      Es nimmt angesichts dieser Bündelung entscheidender sozialer und religiöser Dimensionen nicht wunder, dass die Chorkultur auch im politischen Kontext der griechischen Stadtstaaten, d.h. in der Polis-Kultur, institutionalisiert und instrumentalisiert wurde.8 Mit Blick auf die dramatischen Formen, deren Ursprung in den chorischen Gattungen zu suchen ist, ist die Förderung und Institutionalisierung des Dionysoskults im sechsten Jahrhundert von entscheidender Bedeutung:9 Diese zunächst in Korinth, später in Athen durchgeführten religionspolitischen Maßnahmen etablierten im Besonderen die Gattung des Dithyrambos in einem politischen Umfeld und verankerten die Chorkultur als elementaren Bestandteil der institutionellen Selbstvergewisserung und -inszenierung der Polis im Rahmen verschiedener kultischer Feste und Rituale.10

      Wir dürfen also davon ausgehen, dass das (der Moderne meist fremde) Phänomen „Chor“ in der Lebenswirklichkeit der Autoren und Rezipienten der uns vorliegenden Tragödien einen entscheidenden Platz einnahm und in besonderer Weise mit einigen für das Selbstverständnis des Einzelnen und das der politisch-kultischen Gemeinschaft zentralen Assoziationen verbunden war.

      2. Chor und Dichtung: Chorlyrik und Tragödie

      Die früheste uns fassbare literarische Ausprägung der griechischen Chortradition stellen im Wesentlichen die überlieferten Reste der Dichtungen von Alkman, Stesichoros und Ibykos aus dem siebten bzw. sechsten Jahrhundert v. Chr. dar.1 Die für die frühe griechische Lyrik ohnehin typische schlechte Überlieferungslage erlaubt es nicht, sich ein wirklich umfassendes Bild von den einzelnen Dichtern, den Gattungen oder dem literarischen Umfeld zu machen. Am greifbarsten ist uns das Genre der Chorlyrik daher erst in Form der beiden herausragenden Dichter Pindar2 (geb. 522 bzw. 518, gest. nach 446) und Bakchylides3 (Lebensdaten umstritten), die als geringfügig jüngere Zeitgenossen des Aischylos (525/24–456/55) parallel zum attischen Tragödienschaffen wirkten.

      Als literarisch geformte Gebrauchsdichtung im besten Sinne war die Chor­lyrik geprägt von einer Vielzahl verschiedener Gattungen und Formen, die je nach Anlass, religiös-kultischer Verortung, Darbietungsweise sowie Inhalt und Grad der Emotionalisierung des Liedes differenziert waren. Für uns sind diese vielfältigen Gattungen der Chorlyrik (z.B. Linos, Paian, Threnos, Hymenaios, Hyporchema, Embaterion, Hormos, Hymnos, Prosodion, Dithyrambos, Parthenion) nur noch in Ansätzen trennscharf zu greifen; das klarste Bild lässt sich auf Basis der Werke der beiden Dichter Pindar und Bakchylides vom Genos des Epinikions entwerfen, wohingegen andere Genera für uns reine Namen bleiben. Wir dürfen allerdings davon ausgehen, dass sowohl Dichter als auch Publikum der attischen Tragödie des fünften Jahrhunderts mit den verschiedenen Charakteristika der einzelnen Gattungen auf Grund ihrer Verortung in der kulturellen Lebensrealität vertraut waren.

      Die attische Tragödie ist sowohl kultisch, gattungstechnisch als auch hinsichtlich ihrer Stellung innerhalb des sozialen Gefüges der Polis aufs Engste mit der Chorlyrik verknüpft – mehr noch: Sie ist selbst für Aristoteles eine genuin chorische Gattung.4 Dass sich die dramatischen Formen in Griechenland auf Grundlage der chorischen (Dionysos-)Dichtung entwickelt und von der Gegenüberstellung eines Vorsängers und des zugehörigen Chors ihren Anfang genommen hat, galt bereits Aristoteles als gesichert.5 Auch wenn dabei die genaue Rekonstruktion möglicher „protodramatischer“ Gattungen sowie die Zwischenstufen zwischen reiner Chorlyrik und bereits etablierter dramatischer Form im Einzelnen schwer nachzuvollziehen sind,6 ist es auch heute noch communis opinio, in kultischen, ursprünglich narrativen Dionysos-Gesängen, im Besonderen in den Dithyramben, die Keimzelle der attischen Tragödie zu sehen.7

      Dabei spielt für das Anliegen dieser Untersuchungen weniger die detaillierte Entwicklung dieser Gattung eine Rolle. Festzuhalten bleibt, dass spätestens mit Thespis in den dreißiger Jahren des 6. Jahrhunderts8 der tragödientypische Dualismus von (Chor-)Gesang und Sprechpartien etabliert wurde.9 Der Übergang vom narrativ-reflektierenden Gestus der (frühen) Chorlyrik zu einer nachahmenden, dramatischen Form der Darstellung, in der dem Chor selbst eine gewisse Rolle zukommt, war damit geleistet.10

      In der weiteren Entwicklung der Tragödie hat dann – vor allem durch Aischylos als erste zentrale Figur – die Ausweitung der Sprechpartien, die Einführung eines zweiten Schauspielers11 und die damit verbundene Kürzung der Chorpassagen das (für uns nach Aristoteles) charakteristische Profil der Tragödie als einer durch die Nachahmung von Handlungen bestimmten Bühnenform geprägt.12 Das fünfte Jahrhundert markiert dabei mit den Eckdaten 499/98 (erste Teilnahme des Aischylos am Agon) und 405 (Tod des Sophokles) bzw. 401 (posthume Aufführung des Oidipus auf Kolonos) den chronologischen Rahmen dieser Entwicklung und zugleich ihre Blütezeit. Ihren Sitz hatte diese neue Kunstform – komponiert in Tetralogien, bestehend aus drei Tragödien und einem Satyrspiel13 – innerhalb der Agone an bestimmten Dionysosfesten Athens: den Lenäen sowie den Großen (Städtischen) und den Kleinen (Ländlichen) Dionysien.14 Die tragischen Agone blieben nichtsdestoweniger im offiziellen Verständnis chorische Aufführungen, was sich an der Nomenklatur der entsprechenden Vorgänge zeigt.15

      Dabei hat die Entwicklung der Dramatik aus der Chorlyrik diese keineswegs vollständig absorbiert. Gerade im angesprochenen und anderenorts16 wesentlich ausführlicher beleuchteten institutionellen Rahmen der mit den attischen Dionysosfesten verbundenen Wettkämpfe hatte die Chorlyrik weiterhin ihren festen Platz: Am ersten Festtag der Großen Dionysien, also am Vortag des Tragödienagons,17