Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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in der Elektra). Nicht nur das Verhältnis der Choreuten zur Prot­agonistin und zu Kreon, sondern auch die Gedankenwelt der chorischen Reflexion, ja sogar die Sprache innerhalb der Chorlieder und damit die ganze dramaturgische Komposition wären andersartig.11 Eine ähnliche Überlegung ergibt sich, wenn wir uns eine Aiastragödie vorstellen, in der nicht wie bei Sophokles die Schiffsleute des Prot­agonisten, sondern die des Odysseus oder sonstige griechische Soldaten den Chor bildeten.12

      Im uns überlieferten Werk des Sophokles lassen sich hinsichtlich der Rollenidentität der Chöre zweckmäßiger Weise drei Kategorien bilden, die sozusagen das Spektrum der vom Chor dargestellten dramatis personae umfassen: So stellt der Chor in zwei Tragödien wehrfähige Männer13 dar (Philoktet14 und Aias), ebenfalls in zwei Tragödien Frauen (Trachinierinnen und Elektra) sowie in drei Stücken Greise (Oidipus Tyrannos, Oidipus auf Kolonos und Antigone). Diese drei Gruppen eignen sich besonders gut dazu, als Kategorisierungsmoment die Reihenfolge der Einzelinterpretationen im Hauptteil zu bestimmen.15

      In der Regel hat der Chor zudem zu einer (oder mehreren) Person(en) eine herausgehobene Beziehung: Während dabei in einigen Fällen ein emotionales Nah- bzw. Abhängigkeitsverhältnis zwischen Chor und dem entsprechenden Akteur vorliegt (vgl. das Verhältnis von Aias zu seinen Schiffsleuten), stehen sich andernorts Chor und Bezugsperson in unausgesprochener oder gar betonter Distanz gegenüber. Gerade der Gesprächssituation Chor-Bezugsperson kommt so bei der Interpretation der Tragödie besondere Bedeutung zu (vgl. im Besonderen die Gesprächssituation Prot­agonistin-Chor in der Elektra). Nicht in allen Fällen ist dabei die primäre Bezugsperson des Chors auch der Prot­agonist der Tragödie: Von besonderem Interesse ist in diesen Fällen die Verortung des Chors in seiner gegebenen Rollenidentität zwischen zwei (oder mehreren) Akteuren des Stücks (vgl. Philoktet oder Antigone).

      Die Interpretationen des Hauptteils werden versuchen, auf Grundlage der jeweiligen Rollenidentität bestimmte für die einzelne Tragödie prägende Muster innerhalb der sprachlichen Gestaltung der Chorpartien, der Gesprächssituationen zwischen Chor und Akteuren und der Verortung des Chors im Personenspektrum herauszustellen. Im Folgenden soll daher ein rascher Überblick einige formale Gegebenheiten der chorischen Präsenz in Erinnerung rufen, um die jeweils konkrete Ausgestaltung des Wechselspiels von Chor und Akteuren im Einzelstück genauer untersuchen zu können.

      3.2 Formale Gegebenheiten: Konventionalität – Dualismus Sprechpartien-lyrische Partien – Erscheinungsbild des Chors

      Die attische Tragödie als eine zur Zeit des Sophokles innerhalb der Polis sowie der Lebenswirklichkeit der Athener fest verankerte Institution präsentiert sich in ihrer uns vorliegenden Gestalt als im besten Sinne „hybride literarische Form“,1 die aus verschiedenen (mehr oder minder selbstständigen) Genera und Formteilen zusammengesetzt ist. Sie unterliegt dabei einer Reihe von teilweise rigiden Konventionen, die teils ihrer Entstehungsgeschichte, teils ihrem institutionellen Rahmen, d.h. ihrem Sitz im Leben der Polis, teils gattungsinternen Gegebenheiten geschuldet sind.2 Obwohl aber die Gattung bestimmten Konventionen unterlag, gehen die einzelnen Dichter innovativ und kreativ mit diesen Regeln und Formgesetzen um, was auch den gelegentlichen Bruch mit einzelnen Konventionen einschließt.3 Anders gesagt: Man wird nicht fehlgehen, den Kompositionsprozess einer Tragödie gerade hinsichtlich ihrer formalen Struktur als kreative Auseinandersetzung mit den bestimmenden Polen von „Tradition und Innovation“ zu verstehen.4

      Angesichts der Formung, die die einzelnen Bestandteile der Tragödie entweder in ihrem eigenständigen kultischen bzw. literarischen Umfeld oder im Rahmen der Gattung Tragödie erlangt haben, sowie der Institutionalisierung der Tragödie und ihrem Bezug zur Lebenswelt der Rezipienten wird man davon ausgehen können, dass das Publikum mit den basalen Formteilen und Konventionen der Gattung bekannt war.5 Darunter verstehe ich kein poetisches Spezialwissen, sondern eine an den Sehgewohnheiten geschulte Vertrautheit und Erwartungshaltung, die durch die konkrete Gestaltung des Dichters entweder erfüllt oder konterkariert wird.6

      Wenn auch der Entwicklungsprozess der Gattung nicht mehr im Einzelnen nachzuvollziehen ist, bleibt eine Betrachtung der einzelnen Formteile von entscheidender Wichtigkeit.7 In Vorbereitung auf die Analyse der Einzeldramen, wie sie der Hauptteil dieser Arbeit bietet, sollen hier einige Bemerkungen8 folgen, um den Rahmen der im Wesentlichen unter formalen Gesichtspunkten stehenden Interpretation anzudeuten.

      Die Tragödie, wie sie im Mittelpunkt dieser Arbeit steht, ist auf Grund ihrer historischen Entwicklung formal besonders vielfältig, und diese Vielfalt lässt sich zweckmäßig nach der Art der Darbietung des dramatischen Texts gliedern: Auf der einen Seite stehen die gesprochenen (freilich metrisch komponierten) Passagen, die größtenteils den eigentlichen Akteuren, d.h. den je eine Person der Handlung verkörpernden Schauspielern zukommen, auf der anderen die gesungenen, mit Tanz unterlegten lyrischen Abschnitte, deren Darbietung im Wesentlichen dem Chor obliegt. Als Zwischenform können die rezitierten Partien angesehen werden, die im Wesentlichen klar funktionalisiert sind9 und sowohl dem Chor wie auch den Akteuren zukommen können.

      Während bereits die Sprechpartien einen gewissen Formenreichtum aufweisen, der sich im Besonderen hinsichtlich der metrischen Gestaltung10 sowie der Sprechersituation differenzieren lässt,11 ist die Bandbreite der lyrischen Formen sowohl hinsichtlich der Metrik als auch der innerhalb des Dramas verwendeten oder verarbeiteten (chorischen) Gattungen besonders umfangreich.

      Dass dieser Dualismus und die mit ihm einhergehende Zuordnung (Sprechpartien: Akteure; lyrische Passagen: Chor) freilich kein trennscharfes Gesetz darstellt, beweist zum einen die Einbindung des Chors in die Sprechpartien, zum anderen die von Akteuren entweder unter sich (Monodien12 oder lyrische Duette13) oder im Austausch mit dem Chor dargebrachten lyrischen Abschnitte (Amoibaia14 bzw. epirrhematische Passagen).15

      Der Chor legt so rein formal gesehen ein doppeltes Erscheinungsbild16 an den Tag: Neben den in dieser Arbeit im Vordergrund stehenden Liedern und lyrischen Wechselpartien tritt der Chor auch mit den Personen des Dramas in Dialog oder schaltet sich in die Unterhaltung mehrerer Personen ein und nimmt so an den ausgewiesenen Sprechpartien des Stücks teil. Dabei tritt höchstwahrscheinlich der Chorführer aus der Riege der restlichen Choreuten heraus,17 spricht sozusagen in deren Namen und bedient sich der konventionellen Sprechverse des Dramas (meist iambischer Trimeter). In zwei Fällen erscheinen dabei solche Einschaltungen des Chors geradezu standardisiert und klar funktionalisiert: Zum einen kündigt der Chorführer oft den Auftritt sich nahender Personen an18 oder kommentiert den Abtritt von Akteuren.19 Zum anderen kommt es mit einiger Regelmäßigkeit dem Chorführer zu, einen längeren Monolog einer Person mit einer kurzen, meist einen iambischen Doppelvers umfassenden Bemerkung zu kommentieren; inhaltlich reichen die Kommentare dabei von Bekräftigung des bzw. Zustimmung zum Gesagten20 über größtmögliche Ambivalenz21 bis hin zur Warnung vor anstößiger Rede und der Mahnung, Maß zu halten.22 Gerade in Konfliktstichomythien bilden die Kommentare des Chorführers nach bzw. zwischen den Rheseis der Antagonisten solche moderie­renden Einwürfe, die sich teils durch eine besondere Wertschätzung beider Monologe, und damit durch besondere Ambivalenz, auszeichnen, oder aber allgemein zur Mäßigung aufrufen.23

      In beiden Fällen kommt den Äußerungen des Chorführers eine das Drama bzw. die entsprechende Szene strukturierende Bedeutung zu. Dass dabei auch der Verzicht auf die standardisierten Kommentierungen und Einwürfe einen besonderen dramaturgischen Wert haben kann, wird die Einzeluntersuchung am Rande ad locum erweisen.

      Die mit Musik und Tanz versehenen Lieder24 (Par­odos, gegebenenfalls Epipar­odos sowie Stasima) dienen dagegen formal und oberflächlich betrachtet zunächst als zwischen die (meist durch Auf- bzw. Abtritte gegliederten25) Szenen gesetzte reflektorische Passagen26 zur Trennung größerer Abschnitte („Akte“).27 Sie unterliegen in ihrer metrischen sowie sprachlich-motivischen Komposition in besonderem Maß dem Gestaltungswillen des Dichters,28 der dabei u.a. auf die Gattungen der Chorlyrik sowie deren Konventionen zurückgreift.29 So tragen einzelne Chorlieder innerhalb der Tragödie eindeutig strukturelle und inhaltliche Merkmale gewisser Gattungen der eigenständigen, in der Regel im kultischen Rahmen zu verortenden Chorlyrik.30 Dabei sind, wie schon bei den Werken der selbstständigen (Chor-)Lyrik, sowohl Musik als auch