Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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alles, was einen konkreten Bezug zur Handlung, zur Bühnensituation oder zum Bühnengespräch hat oder aus ihnen hervorgeht.

      Eine Fokussierung auf ein so geartetes Moment der Handlung verortet die chorische Reflexion und damit den Chor als ihren Sprecher dabei punktgenau im dramatischen Kontext; der konkrete Anknüpfungspunkt zwischen Chorpartie und Kontext ist in der Regel explizit bezeichnet: Stellt ein Akteur den Fokus der chorischen Reflexion dar, so kann er durch ein Demonstrativum2 oder eine andere Benennung3 bezeichnet, namentlich genannt4 oder auch angeredet werden.5 Den Bezug auf ein konkretes, womöglich der direkt vorausgehenden Szene entsprungenes Vorkommnis oder einen Gegenstand leisten entweder die konkrete Bezeichnung6 oder ein rückblickendes Demonstrativum.7

      Den eigentlichen Rahmen der Handlung und einiger mit ihr zusammenhän­gender Phänomene verlässt eine fokussierende Reflexion dabei kaum; allenfalls bündelt sie eine Situation exemplarisch in der Fokussierung auf ein spezielles Moment derselben und entwirft so ein Panorama der jeweiligen Verhältnisse, wie sie sich aus Sicht der Choreuten darstellen. Als Faustregel kann zunächst gelten: Solange dabei der unmittelbare Bezugsrahmen der der Handlung immanenten Gegebenheiten nicht verlassen wird, ist die Grenze zur Kontextualisierung noch nicht überschritten.

      Dramaturgisch gesehen entspringt eine fokussierende Reflexion nicht nur konkret dem Geschehen, sondern wirkt im Gegenzug auch in besonders direkter Weise auf dieses zurück. Sie kann gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos sowohl zu einer Steigerung als auch zu einer Drosselung desselben beitragen: Die konkrete, auf ein (innerdramatisch) problematisches Moment der Handlung fokussierende Reflexion reizt dabei die Erwartung einer (Auf-) Lösung, ist also im Wesentlichen dynamisch,8 wohingegen die auf einen erreichten Zustand fokussierende Reflexion eine eher statische Konstatierung und Bekräftigung darstellt9 – die möglicherweise als Folie einer plötzlich hereinbrechenden Wendung dienen kann.10 Wird diese Wendung durch den Rezipienten bereits antizipiert, so ist die entsprechende Chorpartie ein wesentlicher Bestandteil der Inszenierung dramatischer Ironie und damit klar dramaturgisch funktionalisiert. Die Analysen des Hauptteils werden zeigen, inwieweit darin ein geradezu standardisierter Einsatz der chorischen Reflexion vorliegt.

      Die Interpretation der Chorpartien wird dementsprechend zu zeigen versuchen, inwieweit die Reflexion auf ein bestimmtes Moment der Handlung fokussiert, wie sich diese Fokussierung zum Rahmen der innerdramatischen Gegebenheiten verhält und welche (gegebenenfalls standardisierten) dramaturgischen Implikationen sich gerade hinsichtlich des dramatischen Tempos daraus ergeben.

      3.3 Kontextualisierung

      Eine kontextualisierende Reflexion bezieht sich ebenfalls auf ein bestimmtes Moment der Handlung (worunter der oben gegebenen Definition entsprechend auch die momentane Gesamtlage der am Geschehen beteiligten Akteure verstanden werden kann); anstatt dieses allerdings fokussiert zu betrachten und hinsichtlich einiger ihm immanenter Facetten auszuleuchten, sucht diese Reflexion vielmehr, es in einen größeren Rahmen einzuordnen, der den unmittelbaren Bezugsrahmen des dramatischen Geschehens übersteigt.1 Dieses Kontextualisieren eines Moments dient dabei dazu, eine weitere Deutungsebene einzublenden, vor der das dramatische Moment selbst bzw. auch die gesamte Handlung neu oder anders ausgedeutet werden können.

      Welche umfassenderen, den Rahmen des unmittelbaren dramatischen Geschehens übersteigende Kontexte kommen dabei in Frage? Eine reflektierende Partie kann das Geschehen bzw. einen Aspekt desselben in einen theologisch-religiösen oder einen allgemeinphilosophisch-gnomischen Kontext einordnen und dabei entweder nur das Wirken (quasi-)göttlicher,2 abstrakter3 Mächte bzw. menschlicher Grundkonstanten4 feststellen, oder – in einem noch umfassenderen Sinne kontextualisierend – dem Geschehen als Konkretisierung einer allgemeinen Wahrheit geradezu exemplarischen Charakter zusprechen.5 Ähnliches gilt im Fall der Einordnung dramatischer Momente in den Zusammenhang der (Familien-)Geschichte6 oder beim Aufweis mythischer Parallelen,7 die eine Kontextualisierung des Bühnengeschehens ermöglichen bzw. andeuten.

      Ob dabei das dramatische Moment den Ausgangspunkt der Partie bildet oder die Reflexion erst konkretisierend auf das dramatische Moment zuläuft, bleibt im Wesentlichen der bewussten Komposition des Dichters überlassen, der damit je eigene dramaturgische Absichten verfolgt: Ein zu Beginn einer kontextualisierenden Partie gesetzter Bezug zum dramatischen Kontext holt die Rezipienten geradezu in der Handlung ab und öffnet das Geschehen in Richtung einer weiteren Deutungsebene,8 womit – über die gesamte Partie gesehen – grundsätzlich eine Entschleunigung des dramatischen Tempos gegeben sein wird. Dagegen bewirkt die entgegengesetzte Struktur, d.h. die Nennung des Anknüpfungspunkts erst am Ende der kontextualisierenden Partie, über alles gesehen eine beschleunigende Rückführung in die dramatische Realität, nachdem sich der Beginn der Passage zunächst vom unmittelbaren Kontext abgehoben haben wird.9 Näheres muss dabei die Einzelinterpretation ad locum zeigen; auch inwiefern eine der beiden Kompositionsformen für kontextualisierende (und andere) Chorpassagen typisch ist, wird sich erst nach Auswertung der Einzelergebnisse feststellen lassen.

      Die Interpretation solchermaßen kontextualisierender Passagen hat dementsprechend im Besonderen den jeweiligen Anknüpfungspunkt zum dramatischen Geschehen herauszustellen und den Rahmen zu umreißen, in den das Geschehen durch den Chor gestellt wird. Auf der Basis dieser durch die Reflexion entworfenen Deutungsebene(n) müssen darüber hinaus die dramaturgischen Implikationen der entsprechenden Partie sowie ihre motivische Verankerung innerhalb des Dramenganzen untersucht werden.

      4. Chorische Binnengliederung – dramaturgische Implikationen des Einzelstücks

      Von besonderer Bedeutung wird es bei der Interpretation der Einzeltragödien sein, den Beziehungen zwischen den Chorpartien selbst nachzugehen, d.h. zu fragen, ob gewisse Chorpartien einander ergänzen, aufeinander Bezug nehmen oder hinsichtlich ihrer Motivik, ihrer Reflexionsinhalte und -strategien bzw. der ihnen eigenen dramaturgischen Funktionalisierung miteinander korrelieren. Diese Bezugnahmen der Chorpartien untereinander sollen dabei unter dem Stichwort „chorische Binnengliederung“ zusammengefasst werden.

      Von besonderer dramaturgischer Bedeutung ist dabei das strukturierende Potential, das einer so gearteten chorischen Binnengliederung zukommt: Jenseits der rein formalen Gliederung, die die regelmäßige Einschaltung lyrischer Partien mit sich bringt, ist dem Dichter mit den Chorpartien so ein besonders wirksames Mittel gegeben, seine Tragödie auch motivisch-thematisch zu gliedern bzw. zu runden. Um die Bedeutung zu ermessen, die dem strukturellen Potential chorischer Binnengliederung im Fall unseres Autors zukommt, muss ein besonderer Umstand des uns vorliegenden Werks ins Gedächtnis gerufen werden.

      Die uns vollständig überlieferten Tragödien des Sophokles waren nicht Bestandteile von Inhaltstetralogien,1 bei denen zumindest die drei zum Wettbewerb eingereichten Tragödien (tragische Trilogie) als eine Folge von Fortsetzungsstücken abschnittsweise und chronologisch aufeinander aufbauend einen Mythos auf die Bühne brachten.2 Mit aller gebotenen Vorsicht lässt sich auf Grund der Quellenlage behaupten, dass gerade Sophokles ab einem gewissen Zeitpunkt3 die Abkehr vom (aischyleisch geprägten) Kompositionsschema der Inhaltstetralogie4 hin zur Komposition von drei (Tragödien) bzw. vier thematisch in sich geschlossenen Stücken propagiert hat.5 Die so zu einer Tetralogie zusammengefassten Stücke waren, wenn überhaupt, nur noch thematisch-motivisch miteinander verknüpft.6 Eine Rekonstruktion der so gearteten sophokleischen Tetralogien ist allerdings bereits auf Grund der mangelnden Zeugnisse sehr schwierig: Bei vielen Stücken ist schlicht nicht bekannt, mit welchen anderen Dramen sie in einer Tetralogie zusammengefasst waren. Dass von einem Großteil der Tragödien einzig die Titel bekannt sind, erschwert eine Gesamtschau zudem. Beginnend mit Aristoteles7 scheint darüber hinaus auch die Tragödienphilologie der späteren Zeit kein besonderes Gewicht mehr auf die Trilogien- bzw. Tetralogienkomposition gelegt zu haben (vgl. die uns vorliegende Auswahl von sieben Einzelstücken sowie der darin enthaltenen byzantinischen Trias zu Schulzwecken).

      Auch wenn uns so in Sophoklesʼ Fall die Vergleichsmöglichkeiten genommen sind,8 lässt sich schließen, dass sich die Komposition einer in den Verbund einer Inhaltstetralogie eingebundenen Tragödie von der eines als Einzelstück komponierten Dramas unterschieden haben muss: Die Anordnung der einzelnen Formteile, Szenen und Auftritte, die Phasierung des Stücks und demgemäß die poetisch-motivische