Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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die Gestaltung der Chorpassagen und ihre dramaturgische Funktionalisierung auch diesem Zweck dienen, ist folgerichtig. Konkret gesagt: Die formale Geschlossenheit, gar die durch offensichtliche Bezüge und Spiegelungen inhaltlicher9 oder formaler10 Natur erzeugte Rundung einer der uns überlieferten Tragödien festzustellen, ist vor dem Hintergrund dieser Überlegungen alles andere als banal.

      V. Zielsetzung, Aufbau und Vorgehen der Arbeit – praeliminaria

      1. Zielsetzung und wesentliche Charakteristika dieser Untersuchung

      Die vorliegende Arbeit setzt es sich zur Aufgabe, die „chorische Technik“1 des Sophokles eingehend zu beleuchten. Zu diesem Zweck soll auf der Basis einer detaillierten Interpretation der einzelnen Chorpassagen innerhalb der Tragödien ein möglichst umfassendes Bild des Formteils „Chor“ bei Sophokles gegeben werden. Im Vordergrund steht dabei zunächst das vertiefte Verständnis der entsprechenden Partie bzw. der in Rede stehenden Tragödie auf Basis des in dieser Einleitung entwickelten Instrumentariums. Ausgehend von den so erarbeiteten Einzelergebnissen soll ein schrittweiser Überblick über größere Einheiten (Lied/Chorpartie – Einzelstück – Gruppe – Gesamtwerk) generelle Erkenntnisse zur chorischen Technik bzw. zur Chorführung herausarbeiten.

      Im Besonderen wird dabei zu fragen sein, ob, und wenn ja, was für ein Zusammenhang zwischen den drei in der Einleitung eröffneten Spektren (Person/Rollenidentität, Reflexionsstrategie, dramaturgische Funktionalisierung) besteht, d.h. ob sich feste Zuordnungen ausmachen lassen und was damit für die Betrachtung der Tragödien im Ganzen gewonnen ist.

      So ist die vorliegende Arbeit sowohl hinsichtlich ihrer grundsätzlichen Auffassung der Tragödie als auch mit Blick auf ihre Zielsetzung und den zu unter­suchenden Gegenstand im Ganzen SPIRAs wohlbegründeter Ansicht verpflichtet:

      Daß Handlung und Charaktere, in anderen Worten, dramatische Technik und Psychologie, untrennbar voneinander der Gesamtkonzeption des Dramas dienen, ist unsere feste Auffassung.2

      Bereits in ihrer Konzeption, das Phänomen Chor im Rahmen der drei oben entworfenen Spektren zu untersuchen (und damit das Gegeneinander einer – vermeintlich aristotelischen – reinen dramatis persona-Auffassung, einer ausschließlich dramentechnischen Betrachtung sowie einer einzig an rituell-performativen Aspekten oder den theologisch-geistesgeschichtlichen Inhalten der Chorlieder interessierten Beschäftigung zu überwinden), weiß sich diese Untersuchung auf der von SPIRA innerhalb der Forschung ausgemachten und beschrittenen via media zwischen den Extremen.3 Wenn sich der Fokus der Interpretationen dabei auch von Zeit zu Zeit auf Einzelaspekte (wie beispielsweise die Einbindung der chorischen Person in das Personenspektrum der Tragödie oder die strukturelle Verankerung gewisser Lieder) konzentriert, so wird doch an dieser für das Selbstverständnis der Arbeit konstitutiven Ausrichtung festgehalten. Dass dabei das besondere Augenmerk eher auf die formalen Aspekte der einzelnen Tragödien sowie des Dramas überhaupt gerichtet ist, versteht sich vor diesem Hintergrund nicht als Abweichung von der angesprochenen via media, sondern als besonders geeignetes Instrument, den Untersuchungsgegenstand adäquat auszudeuten; „denn in der dramatischen Form erscheint ja alles, was interpretiert und nach dessen Sinngebung gefragt werden kann“.4

      Die vorliegende Arbeit ist diesen Überlegungen und Verortungen entsprechend im Wesentlichen deskriptiv und werkimmanent ausgerichtet. Sie wird dabei im Besonderen den bereits angedeuteten strukturellen, d.h. im besten Sinne dramaturgischen Effekten der einzelnen Lieder nachgehen. In ihrer grundlegenden Intention weiß sie sich dabei in besonderer Nähe zu GRUBER: Sie sucht in ihrer Frage nach der Dramaturgie des Einzeldramas zu ergründen, welche Bedeutung das jeweilige Chorlied bzw. die Gesamtheit der chorischen Passagen eines Dramas für die Komposition des Stücks besitzt; sie fragt daher mittelbar auch, „auf welche Weise der Chor im Ablauf einer Tragödie die Rezeptionshaltung des Zuschauers prägt“.5 Der Rezeptionsästhetik GRUBERS setzt sie allerdings den fokussierten Blick auf das Wechselspiel der Formteile der Tragödie entgegen und weiß sich damit einer eher produktions- bzw. werkästhetischen6 Position verpflichtet.

      Das Ziel der Arbeit, das Verständnis des jeweiligen Einzelstücks als einer dramatischen Komposition zu fördern, rückt sie von Zeit zu Zeit in die Nähe einer geradezu kommentierenden Auseinandersetzung und macht gegebenenfalls die deutende Wiedergabe längerer Textpartien nötig.

      2. Aufbau der Arbeit, methodische Entscheidungen und Vorgehen im Einzelnen

      Der Aufbau der vorliegenden Arbeit ergibt sich aus der oben umrissenen Zielsetzung: Die Gestaltung und Anordnung ihrer Teile versucht dabei, das oben erwähnte schrittweise Überblicken der dem Gegenstand eigenen Abschnitte zu spiegeln.

      Den Hauptteil der Arbeit (B) bilden dementsprechend die Einzelinterpretationen der sieben uns vorliegenden Tragödien des Sophokles (samt den Gesamtschauen der einzelnen Großabschnitte). Wie oben bereits bemerkt, sind diese Einzelinterpretationen nach den Rollenidentitäten der jeweiligen Chöre kategorisiert:1 So kommen zunächst die Tragödien mit Chören wehrfähiger Männer in den Blick, daraufhin die mit Frauen-, schließlich die mit Greisenchören. Sowohl die Anordnung dieser Großabschnitte selbst als auch die Reihenfolge der ihnen zugehörigen Einzeltragödien unterliegt dabei inhaltlich-formalen Gesichtspunkten, die die Interpretation selbst ergeben und die entsprechenden resümierenden Partien sozusagen im Rückblick erläutern werden.2

      Die den sieben Dramen gewidmeten Abschnitte sind dabei ganz parallel aufgebaut: Der Interpretation der einzelnen Partien geht jeweils unter der Überschrift „Vorbemerkungen“ eine kurze Angabe des Inhalts der Tragödie sowie ein Überblick zum Personal und entscheidenden strukturellen Momenten voran.3 Eine Zusammenfassung wird im Anschluss an die Analyse die entscheidenden Punkte der Einzelinterpretation der Chorpartien prägnant zu wiederholen suchen. Sie wird dazu das gesamte Drama in den Blick nehmen, eine Übersicht der Chorlieder geben und den Blick auf größere Formaleinheiten innerhalb des Stückes weiten. Im Besonderen wird dabei gemäß den in der Einleitung eröffneten Kategorien nach dem Verhältnis des Chors zur jeweiligen Bezugsperson, nach den Reflexionsstrategien, der dramaturgischen Funktionalisierung der Chorpartien sowie nach ihrer Binnengliederung und damit gegebenenfalls ihrer strukturierenden Funktion zu fragen sein.

      Eine vergleichende Gegenüberstellung der hinsichtlich der Rollenidentität des Chors zusammengehörigen Tragödien bieten die sog. Gesamtschauen am Ende der jeweiligen Großabschnitte. Sie dienen dazu, Parallelen und Unterschiede der Chorführung der entsprechenden Dramen aufzuzeigen, und orientieren sich dabei gezielt an den in der Einleitung beschriebenen Spektren. Dabei verstehen sie sich jeweils als Zwischen-Fazit, das auf Basis der Einzelinterpretationen entscheidende Punkte herausstellt und den Blick weitet.

      Der mit „Synthese und Ausblick“ überschriebene Abschnitt C stellt den abschließenden Versuch dar, die in den Einzelinterpretationen herausgearbeiteten und in den Gesamtschauen abschnittsweise miteinander verglichenen Ergebnisse zu einem Gesamtbild zusammenzuführen. Dabei sollen zunächst einige allgemeine Gesichtspunkte der sophokleischen Chorführung beleuchtet werden, bevor sich je ein Unterabschnitt mit dem Verhältnis der drei in der Einleitung entworfenen Spektren sowie einigen sich daraus ergebenden Folgerungen mit Blick auf das Gesamtwerk auseinandersetzt. Ein kurzer Ausblick wird versuchen, mögliche Nutzbarmachungen der hier vorgelegten Analysen und Ergebnisse zu umreißen.

      Einige methodische Entscheidungen haben dabei besonderen Einfluss auf die Gestaltung der Interpretationen im Einzelnen; sie sollen daher hier kurz ausgeführt werden.

      Die zu untersuchenden, zumeist lyrischen Partien des Chors sind bereits sprachlich und inhaltlich so komplex, dass mit Blick auf die Zielsetzung dieser Arbeit mit einem reinen Überblick oder einer kurzen Inhaltsangabe nicht besonders viel gewonnen wäre. Da die Analyse im Einzelfall zeigen will, welche Bedeutung gerade der sprachlich-poetischen Komposition der einzelnen Chorpartien (d.h. dem Gedankenfortschritt, der Verknüpfung einzelner Bilder, Gedanken oder Motive) sowohl mit Blick auf die Verortung des Liedes im Ablauf der Handlung als auch seiner dramaturgischen Funktionalisierung zukommt, ist es unausweichlich, den entsprechenden Partien größtenteils in einer engen, textnahen Interpretation zu folgen.

      Gerade die dramaturgischen Zusammenhänge und Strukturen der Chorlieder