Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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Aussagen des Chors innerhalb der Sprechteile des Dramas) zunächst für sich und im Zusammenhang mit dem Handlungsverlauf betrachtet werden.4 Erst auf Basis eines so gearteten textnahen Nachvollzugs sowie einer teilweise kleinteiligen Betrachtung können die einzelnen Aspekte der Chorführung eines Dramas bzw. einer Gruppe von Dramen beleuchtet werden.

      Die vom Dichter festgelegte Reihenfolge der Gedanken und Reflexionen, d.h. das konkrete Nacheinander der einzelnen Sätze, Strophen und Abschnitte ist dabei konstitutiv; fragt man so nach der konkreten Einbettung des Liedes im Zusammenhang des Dramas, ist ein Nachvollzug der zu untersuchenden Partie in der Reihenfolge der Rezeption und somit ein (zumindest erster) Durchgang durch den vorliegenden Text notwendig.

      Da ferner gerade die Verortung der jeweiligen Lieder im Kontext des Stückes, d.h. im Besonderen der motivisch-thematische Konnex zwischen Sprechpartien und lyrischen Abschnitten, zu erfragen ist, müssen auch gewisse nicht-chorische Passagen einer genaueren Untersuchung unterzogen werden (im Besonderen freilich die Prologe, denen als Startpunkt der Tragödien herausgehobene Bedeutung gerade auch hinsichtlich ihrer Beziehung zur Par­odos zukommt). Die entsprechenden Passagen dieser Arbeit sind dabei nicht als Digression zu verstehen, sondern wollen in besonders fokussierter Weise die Ausdeutung des folgenden (oder vorangehenden) Chorliedes ermöglichen.

      Kurz gesagt: Die Einzelinterpretationen folgen so dem Verlauf des jeweiligen Stücks sowie den einzelnen Partien im Wesentlichen linear; einzelne Vor- oder Rückblenden ergeben sich dabei aus der Sache selbst: So ist es beispielsweise bei der Einordnung einer gewissen Passage in den übergeordneten Kontext des Dramas notwendig, das Verhältnis des in Rede stehenden Abschnitts zu vorangegangenen oder kommenden Partien zu beleuchten. Am grundlegenden Charakter der Einzelanalyse als eines Durchgangs durch die entsprechende Tragödie ändert dies allerdings nichts.5

      Trotz der formalen und thematischen Vielfalt der zu betrachtenden Chorlieder sowie der jeweils unterschiedlichen Einbindung in den Zusammenhang des Dramas ist es geraten, die Interpretation der chorischen Passagen einem groben Schema folgen zu lassen: So geht der eigentlichen Interpretation eine Hinführung zur Partie voraus, die die vorhergehende Sprechszene rekapituliert. Es folgt in der Regel ein rascher formaler Überblick über die eigentliche chorische Partie, wobei neben der Angabe des grundlegenden Themas besonders die Ausdehnung, die metrisch-strophische Gliederung,6 die (intendierte) Gesprächssituation und etwaige gattungseigene Merkmale im Vordergrund stehen. Daran schließt sich ein detaillierter Nachvollzug der Partie an, der im Besonderen die Gedankenbewegung, die motivische Arbeit und die sprachliche Ausgestaltung beleuchten wird. Es wird dabei nötig sein, gewisse Abschnitte sehr textnah zu paraphrasieren, andere – v.a. kommatische Partien – können hingegen kursorisch abgehandelt werden. Dem differenzierten und deskriptiven Nachvollzug der Einzelheiten folgt in der Regel ein zusammenfassender Überblick, der versucht, zum einen die dramaturgischen Implikationen der Partie herauszustellen, zum anderen ihre Relation zu den anderen lyrischen Partien des Dramas zu beleuchten.

      Angesichts des Ziels sowie des angedeuteten Vorgehens dieser Arbeit ist ersichtlich, warum in diesem Rahmen weder eine Behandlung der Tragödienfragmente noch der Satyrspiele unseres Autors geleistet werden kann: Die unzureichende Überlieferung macht es unmöglich, dem Fortgang der jeweiligen Dramen zu folgen oder gar einzelne Partien genauer zu analysieren, um auf dieser Basis valide Erkenntnisse zur Dramaturgie der Einzelstücke zu gewinnen.7

      Die Arbeit will und kann trotz ihres Umfangs und der Behandlung aller sieben überlieferten Stücke zudem keine umfassende Gesamtinterpretation der Tragödien liefern. Dass im hier gewählten formalen Zugang zu den Tragödien eine Reihe von Aspekten unbearbeitet bleibt, dass womöglich mit der Betonung der kompositorischen Prinzipien ein einseitiges Bild der dramatischen Werke gezeichnet wird und die vorgelegte Studie den Dramen nicht in Gänze gerecht werden kann, ist mir bewusst.

      Grundsätzlich bleibt dabei allerdings zu bedenken: Weder darf der unzureichende Überlieferungsstand der Werke unseres Autors auf der einen noch die Unkenntnis über die konkrete Musik, den Tanz und sonstige mit der Aufführungspraxis unmittelbar verbundenen Phänomene auf der anderen Seite außer Acht gelassen werden. Gerade die Beschäftigung mit dem Chor innerhalb der Tragödie hat so einige Leerstellen anzuerkennen, die eine umfassende Würdigung des sophokleischen Werks gerade hinsichtlich seiner Wirkung auf das Publikum ohnehin weitestgehend unmöglich machen.8 Auch die verdienstvolle Auseinandersetzung mit den historischen Umständen der Gattung Tragödie und ihrer soziokulturellen Verankerung innerhalb der Polis Athen darf dabei nicht über den Umstand hinwegtäuschen, dass selbst ein rezeptionsästhetischer Ansatz zum Verständnis der Einzelstücke mit dieser generellen Unkenntnis umzugehen hat.9 Gerade die von neueren Tendenzen mit einiger Entschiedenheit ins Feld geführte Rekontextualisierung der attischen Tragödie scheint allzu oft die Leerstellen innerhalb der Überlieferung sowie unsere Unkenntnis aus dem Blick zu verlieren; dass gerade eine zielgerichtete Fokussierung auf die inneren Strukturen der Tragödien und ihre Kompositionsprinzipien das Verständnis fördern kann, will dagegen die vorliegende Arbeit zeigen. Die diese Arbeit im Wesentlichen prägende Konzentration auf den Text der sophokleischen Tragödien versteht sich so nicht als andere Aspekte ausblendende Reduktion, sondern ist sich ihrer Beschränkung durchaus bewusst. Gemäß ihrem Ziel, zunächst das Verständnis der Einzeltragödien zu fördern, schließlich ein Gesamtbild des sophokleischen Chorgebrauchs zu zeichnen, sieht sie allerdings in der Beschäftigung mit dem Tragödientext den angesichts der Überlieferungslage einzig gangbaren Weg.

      3. praeliminaria

      3.1 Datierung und Chronologie

      Sowohl die relative wie auch die absolute Datierung der sieben uns erhaltenen Tragödien des Sophokles ist besonders umstritten.1 Der Mangel an äußeren Zeugnissen hat zur Folge, dass sich einzig die Aufführungen zweier Tragödien durch äußere Indizien sicher datieren lassen: Philoktet im Jahr 409, Oidipus auf Kolonos posthum im Jahr 401.2 Die Datierungsversuche der anderen fünf Stücke divergieren teils erheblich.3 Angesichts dieser grundlegenden Schwierigkeiten sowie der ohnehin dürftigen Kenntnis des Gesamtwerks unseres Dichters ist ZIMMERMANN zu Recht den Versuchen, Entwicklungslinien innerhalb der uns vorliegenden Stücke erkennen zu wollen, mit einiger Vorsicht entgegengetreten.4 Selbst aus der oft zu Rate gezogenen Stelle in Plutarchs de prof. in virt. (79 B), in der man ein verlässliches Selbstzeugnis des Sophokles über den Werdegang seiner Kunst gesehen hat,5 gewinnt man bei genauerer Untersuchung kein zufriedenstellendes Konzept, das aus sich heraus Anhaltspunkte für eine Chronologie der sieben uns erhaltenen Tragödien liefern könnte.6 Die Ansätze, aus den Tragödien selbst auf Basis innerer, d.h. sprachlicher, stilistischer,7 dramaturgischer oder sonstiger Kriterien eine Chronologie zu entwickeln,8 können daher keine letzte Gültigkeit beanspruchen.9 Auch die Datierung auf Grund von Anspielungen oder Reflexen auf außerdramatische Gegebenheiten innerhalb der Stücke ist letztlich nicht zwingend und vielfach äußerst spekulativ.10

      Diese Arbeit will dementsprechend dezidiert keinen Beitrag zur Datierungsdebatte liefern. Es wäre methodisch völlig unhaltbar, aus der Untersuchung eines – wenn auch zentralen – Kompositionsmoments wie der dramaturgischen Einbindung und Funktionalisierung der Chorpassagen einen Maßstab gewinnen zu wollen, an dem sich die untersuchten Stücke chronologisch einordnen ließen.11 Angesichts der von ZIMMERMANN angedeuteten Gefahr von „Zirkelschlüssen“12 ist es zudem ratsam, den Einzelinterpretationen keine Vorstellungen von künstlerischer Entwicklung zu Grunde zu legen und so etwa von vorneherein davon auszugehen, der Gebrauch des Chors oder die dramatische Komposition der erwiesen späten Stücke Philoktet oder Oidipus auf Kolonos seien per se elaborierter als die der früheren Dramen.13

      Da die vorliegende Arbeit alle sieben erhaltenen Stücke unseres Autors beleuchtet, muss eine Reihenfolge der Einzeluntersuchungen gefunden werden. Wie bereits angedeutet, ist dafür die Rollenidentität des Chors entscheidendes Ordnungsmoment; innerhalb der das Spektrum gliedernden drei Gruppen (wehrfähige Männer, Frauen, Greise) erfolgt die Reihenfolge der Einzelinterpretationen, wie oben bereits ausgeführt, dabei nach inhaltlichen Gesichtspunkten, die in der Gesamtschau ausgeführt werden sollen. Vergleiche oder kontrastive Gegenüberstellungen einzelner Stücke bzw. gewisser struktureller Momente werden sich dabei aus der Sache selbst ergeben und nicht allein auf Grund (angenommener) chronologischer