Bastian Reitze

Der Chor in den Tragödien des Sophokles


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sein Leben ohnehin in Kürze verlieren werde. In zwei Fragen gibt er die Begründung dieser hoffnungslosen Zukunftsperspektive: Woher solle der nötige Lebensunterhalt kommen? Und wer könne sich selbst ernähren, wenn er über nichts mehr verfüge, das die lebensspendende Erde hervorbringt?

      Dem vernichtenden Bild des dem sicheren Untergang Geweihten setzt der Chor in seiner Erwiderung v. 1163ff. geradezu eine Einladung entgegen. Philoktet solle sich, so die Aufforderung der Choreuten, nähern, wenn er dem Fremden, d.h. dem Chor, gegenüber die nötige Ehrfurcht habe (εἴ τι σέβῃ). Dieser jedenfalls sei ihm ein Nachbar in aller Wohlgesonnenheit. Allerdings solle Philoktet wissen, dass es an ihm liege, dem so sicher scheinenden Verderben zu entfliehen: Jammervoll sei es, dieses Verderben zu nähren (βόσκειν v. 1167), Philoktet dagegen unkundig, das damit einhergehende vielfache Leid zu ertragen.12

      Erst an diesem Punkt (v. 1169), d.h. nach knapp 90 Versen des einseitigen lyrischen Austauschs, wird Philoktet zum ersten Mal auf die Einlassungen des Chors reagieren. Der erste, statische Teil des Kommos hat damit sein Ende gefunden. Machen wir uns daher kurz bewusst, was die lyrische Passage bis zu diesem Einschnitt geprägt hat. In ausgreifenden und hochemotionalen Beiträgen kreiste Philoktet um das für ihn zentrale und folgenschwere Ereignis des scheinbar endgültigen Bogenverlustes, auf dessen Grundlage sich die Einschätzung seiner Situation in bisher unbekanntem Maß dramatisiert hat. Während dabei die Angst, nunmehr der gewohnten Nahrungsbeschaffung nicht mehr nachgehen zu können und dadurch entweder dem Hunger oder den wilden Tieren schutzlos ausgeliefert zu sein, als Grundthema in allen Strophen anklingt, entfaltet Philoktet ein weites Panorama größtenteils bereits bekannter Motive: seine Wohnsituation und Einsamkeit, die erlittene Täuschung, der Hass auf Odysseus sowie das nahende Ende des eigenen Lebens. In einen Dialog mit dem Chor tritt er dabei nicht ein; auf die teils moralisierend-mahnenden, teils richtigstellenden Einwürfe des Chors zeigt der Prot­agonist keine erkennbare Reaktion. Vielmehr verharrt er in einer geradezu monologischen Versunkenheit, die die Rolle seiner eigenen Person im lokalen, personalen und zeitlichen Rahmen der Handlung grell ausleuchtet.

      Das sich anschließende Gespräch mit dem Chor können wir hinsichtlich der in ihm behandelten Thematik kurz zusammenfassen: Philoktet wendet sich in den Versen 1169ff. zum ersten Mal direkt an die Choreuten, wirft ihnen vor, ihn an das alte Leid erneut zu erinnern, und fragt sie sichtlich erregt, warum sie ihn zu Grunde gerichtet und was sie ihm angetan hätten, als sie planten, ihn in das ihm verhasste Troia zu bringen (v.1175). Diese Überführung des Helden sei, so die Schiffsleute, allerdings die aus ihrer Sicht beste Lösung (v. 1176). Philoktet fordert daraufhin den Chor auf, ihn zu verlassen (v. 1177). Dieses Ansinnen des Prot­agonisten scheint ganz der Intention der Schiffsleute zu entsprechen (φίλα ταῦτα παρήγγειλας ἑκόντι v. 1177f.). Schon fordern sie einander zum Abtritt auf (ἴωμεν ἴωμεν v. 1179), da unterbricht sie Philoktet: Unter dem Anruf des Zeus erbittet er von ihnen, nicht fortzugehen (μὴ ἔλθῃς), sondern hier zu bleiben (μείνατε). Das Gespräch erreicht an dieser Stelle (v. 1180ff.) einen ersten Höhepunkt: Nachdem die Absicht des Chors, nun den Ort des Geschehens zu verlassen, die Szenerie unversehens dynamisierte und das vermeintliche Ende der Gesprächssituation in Aussicht stellte,13 wendet sich hier die Situation erneut. Philoktet scheint in seinem Sprechen ganz seinen Emotionen und dem ihn überkommenden Leid zu folgen, eine rationale Auseinandersetzung mit ihm ist unmöglich. Der rasche Sprecherwechsel unserer Stelle (vgl. v.a. v. 1181ff.) steht dabei in wirkungsvollem Kontrast zu den ausgreifenden Redepartien des ersten Teils. War dort die an den Tag gelegte Emotionalität besonders von eher distanzierter Betrachtung und Reflexion geprägt, so entlädt sie sich nun in kurzen, konkrete Handlungen in den Blick nehmenden Anrufen.

      Philoktet bricht trotz der Mahnung des Chors, sich zu mäßigen, in Vers 1186 in eine erneute Wehklage aus, die nach der Anrufung seines δαίμων und seines Fußes in der Bitte an den Chor gipfelt, nun wiederzukommen. Die vorsichtig optimistische Frage des Chors v. 1191 nach einer möglichen Meinungsänderung sowie dem weiteren Vorgehen wird von ihm allerdings zurückgewiesen: Jemandem, der von wildem Schmerz geplagt werde, dürfe man nicht zürnen, selbst wenn er gleichsam von Sinnen klage. Der Aufforderung des Chors, sich nach seinen Anweisungen in Bewegung zu setzen (v. 1196), erteilt der Prot­agonist eine entschiedene Absage: Mit größtem Nachdruck betont er, selbst wenn Zeus ihn mit den Strahlen seines Blitzes nach Troia senden wolle, nicht zu folgen. Ilion und alle Untergebenen des Odysseus, die ihn damals aussetzten, sollten, so der Wunsch des entschlossenen Helden, zu Grunde gehen. Eine Bitte richtet Philoktet daraufhin an die Schiffsleute des Neoptolemos: Ihn verlangt, wie das folgende Wechselgespräch (v. 1204–1211) herausstellt, nach einem Schwert, einem Beil oder einer sonstigen Waffe, mit der er sich selbst töten könne, um so seinen Vater im Hades aufzusuchen. Prägnant fasst Philoktet dabei sein momentanes Trachten in Vers 1209 zusammen: φονᾷ φονᾷ νόος ἤδη „Nach Mord, nach Mord steht mir schon der Sinn!“ Wie schon in den Versen 1180ff., so intensiviert sich auch an dieser Stelle das Gespräch: Die teilweise extrem kurzen Zwischenfragen des Chors (v. 1204, 1206, 1210, 1211) lassen den Eindruck einer hastigen, geradezu fieberhaften Kommunikation entstehen, die von den stür­mischen und wild auffahrenden Einwürfen des Prot­agonisten geprägt ist. Mit Vers 1213 scheint bei Philoktet dagegen die Resignation erneut die Oberhand zu gewinnen. Ein Anruf seiner Heimatstadt, die er, nachdem er sie als Unterstützer der verhassten Danaer verließ, wohl nie wieder zu Gesicht bekommen werde, gipfelt in den niederschmetternden Worten ἔτʼ οὐδέν εἰμι (v. 1217) „Darüber hinaus bin ich nichts mehr“. Dass Philoktet nach diesen Worten in seine Höhle geht und damit das unmittelbare Bühnengeschehen verlässt, zeigen die späteren Aufforderungen des Neoptolemos v. 1261f. Halten wir daher fest: Die ausgreifende lyrische Passage mündet an unserer Stelle in den Abtritt des Prot­agonisten, nachdem bereits in den Versen 1177ff. das Abtreten des Chors unmittelbar bevorstand. Mit Philoktets Abgang hat die prägende Gestalt der vorangegangenen Szene das Geschehen verlassen und die außergewöhnliche Gesprächssituation so ein Ende gefunden.

      Die Passage soll nun als Ganze in den Blick genommen werden. Motivisch schöpft der Wechselgesang in beiden Teilen aus den Monologen des Prot­agonisten in der vorangegangenen Szene. Anders gesagt: Etwas wesentlich Neues teilt Philoktet nicht mit. Die teilweise begrifflichen Reminiszenzen an die vorangegangene Szene sind dabei offensichtlich; es genügt, die folgenden Punkte aufzuzählen: Der Anruf der Felsenbehausung zu Beginn des Wechselgesangs (v. 1081f.) nimmt Vers 952 wieder auf; das nunmehr problematische, d.h. gefahrvolle Verhältnis Philoktets zu den ihn umgebenden Tieren, wie es im Besonderen die zweite Gegenstrophe verbalisiert, war bereits in den Versen 956ff. ähnlich drastisch geschildert worden; die vernichtende Selbsteinschätzung, nunmehr dem Tode näher zu sein als dem Leben, ja geradezu nichts mehr zu sein (v. 1217), fand ihren prägnanten Ausdruck bereits in Vers 951. Die Bitte des Prot­agonisten an die Schiffsleute um eine geeignete Waffe zur Selbsttötung (v. 1204ff.) spiegelt dazu die Androhung Philoktets in den Versen 999ff., sich in den Tod zu stürzen, wenn auch die unmittelbare Gefahr für das Leben des Helden an der früheren Stelle wesentlich virulenter war.

      Es dürfte bereits aus diesen Andeutungen klar geworden sein: Der Wechselgesang setzt die vorangegangenen Monologe des Prot­agonisten motivisch fort14 und stellt zugleich mit seinem statischen ersten Teil einen Kontrapunkt zur belebten vorangegangenen Szene dar. Nach der überraschenden Einschaltung des Odysseus in die Bühnenhandlung und dem aktionsreichen Rededuell zwischen ihm und dem Prot­agonisten kehrt so zunächst Ruhe ein. Die Gesprächssituation Prot­agonist-Chor ist im Ablauf der Tragödie dabei einmalig und markiert den vorliegenden Kommos als besonderen emotionalen Höhepunkt des Stückes. Seine Ausdehnung (über 130 Verse) ermöglicht die wort- und effektreiche Beleuchtung der zutiefst verfahrenen Situation. Wie gesehen, versenkt sich Philoktet dabei zunächst ganz in die Klage über das erlittene Unrecht und stellt in einem umfassenden Blick sich und seine hoffnungslose Lage dar. Die Kommunikation mit dem Chor ist dabei einseitig: Auf die Bemerkungen der Schiffsleute geht Philoktet nicht ein, sondern setzt seine Klage geradezu monologisch fort.

      Der zweite, wesentlich dialogischere und aktivere Teil des Kommos greift die abgeklungene Dynamik wieder auf: Mit dem Spiel um den Abgang des Chors und der effektvollen Meinungsänderung Philoktets kommt einige Aktion auf die Bühne. Die Schlusspartie der Passage entfaltet daraufhin erneut das bereits mehrmals angeklungene