Tanja Gutmann

Dem Leben so nah wie nie zuvor


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wie möglich hinter mich bringen.

      Der nächste Besuch ist der von Dr. Lukes. Er kommt mit mehreren Assistenzärzten zum ersten Mal auf Visite. Heute ist wohl der Tag der Anamnesen. Denn auch die Ärzte wollen eine genaue Standortbestimmung von mir und auch sonst noch so einiges wissen. Im Gegenzug klärt mich Dr. Lukes auf, was sie alles mit mir vorhaben. Zuerst steht eine Voruntersuchung, eine sogenannte Angiographie, oder ganz genau, eine selektive intraarterielle Angiographie, auf dem Programm. Dafür musste ich auch nüchtern hier antraben, für den Fall, dass es Komplikationen gibt und ein Eingriff erforderlich wird.

      Info: Angiographie

      Die Angiographie ist ein spezielles Röntgen-Untersuchungsverfahren zur Darstellung von Arterien im menschlichen Körper.

      Da diese Gefäße nicht ohne Weiteres sichtbar sind, müssen sie für den kurzen Moment der Röntgenbestrahlung mit Kontrastmittel gefüllt werden.

      Dies geschieht mit Hilfe eines Katheters.

      Nach örtlicher Betäubung wird die Arterie (meistens Leistenarterie) mit einer Nadel punktiert und eine sogenannte Schleuse gelegt. Durch diese wird dann der Katheter in die Arterie eingeführt und bis an den Ort der zu untersuchenden Gefäße (in der Neuroradiologie Hals- und Kopfarterien) vorgeschoben. Danach wird Kontrastmittel injiziert.

      Während der Kontrastmittelapplikation werden in schneller Folge Röntgenbilder angefertigt.

      Nach der Untersuchung wird der Katheter wieder entfernt, die Punktionsstelle zur Blutstillung komprimiert und anschließend für ca. 6 Stunden ein Druckverband angelegt.

      Wird die Angiografie während eines stationären Aufenthalts vorgenommen, ist eine Bettruhe von ca. 6 Stunden einzuhalten.

      Die notwendigen Kontrastmittel sind in der Regel sehr gut verträglich. Überempfindlichkeitsreaktionen kommen selten vor.

      Eine Angiographie wird gewöhnlich zur Darstellung von Erkrankungen der Gefäße verordnet (u. a. bei Arteriosklerose, Embolien und Aneurysmen).

      Bei Tumoren werden mit der Angiographie die Blutgefäße rund um den Tumor genau lokalisiert, damit der Chirurg weiß, welches Ausmaß dieser hat, wie das Durchblutungsverhältnis rund um ihn herum ist und ob er keine größeren Blutadern eingeschlossen hat. Diese Informationen sind sehr wichtig, um den besten Zugang zum Tumor zu finden, denn bei einer Hirnoperation ist klar: Ein kleiner Patzer und es hat fatale Folgen.

      Ich bekomme also einen Schlauch in meine Beinarterie gesteckt und dann stoßen sie das Ding auch noch durch meinen halben Körper! Das kann ja heiter werden! Nur schon der Gedanke daran verpasst mir von Kopf bis Fuß einen Adrenalinstoß. Da kommt ja noch mehr auf mich zu, als ich gedacht habe.

      „Die Operation ist für morgen, 26. Dezember am Vormittag geplant“, informiert mich Dr. Lukes weiter. Ich fühle mich plötzlich ganz klein und werde sehr still. Dabei schaue ich wohl etwas beunruhigt in die Runde, denn er meint weiter: „Machen Sie sich keine Sorgen. Ich mache solche Operationen tagtäglich und habe sehr viel Erfahrung darin. Das bringen wir gut über die Bühne.“ Ja, diesen Satz kann ich gut brauchen. Er beruhigt mich und schafft Vertrauen. Im Moment sind meine Gefühlssensoren sehr fein eingestellt. Ein falscher Ton, eine komische Geste und ich bin schon wieder auf der Achterbahn.

      Etwas brennt mir aber noch auf der Zunge: „Wann werden denn meine Haare abgeschnitten?“, frage ich. Sie schauen mich verdutzt an. Gefolgt von einem breiten Grinsen. „Das wird während der Narkose gemacht. Aber es werden nur die Haare im Bereich des Hautschnitts abrasiert. Alles andere bleibt dran“, erklärt mir Dr. Lukes lachend. Ich bin unglaublich erleichtert und komme mir gleichzeitig ziemlich blöd vor! Ich hatte echt Angst, dass ich, wenn ich zuhause bin, andauernd angequatscht werde und mich immer erklären muss. Dabei möchte ich doch, dass niemand von all dem hier erfährt.

      „Ach nein, jetzt habe ich mich schon so auf deine Glatze gefreut“, grinst mir Sacha entgegen. „Ja, ja, du kannst schon lachen“, entgegne ich ihm schmunzelnd. „Wenigstens haben sich die Ärzte amüsiert.“ Und ich habe jetzt mal einen Plan, auf den ich mich einstellen und vorbereiten kann. Das ist wichtig für mich. Das sind die Grashälmchen an denen ich mich festhalte und die meinem Leben wieder gewisse Eckpfeiler geben. Ein wenig trügerische Sicherheit habe ich also wieder zurückerlangt. Aber eben trügerisch! Ich fahre weiter Achterbahn mit meinen Emotionen. Mal bin ich ruhig und kann sogar einen Spruch reißen, mal schüttelt es mich emotional wieder richtig durch. „Nach der Operation bin ich gehirnamputiert“, witzle ich zu Sacha. „Du kannst dich also auf etwas gefasst machen.“ Humor und Ironie sind für mich in schwierigen Situationen gute Begleiter. Ich nehme mich gerne auf die Schippe, auch jetzt. Es macht alles viel leichter und erträglicher.

      Nach erneutem längerem und nervenaufreibendem Däumchen drehen besucht mich der interventionelle Neuroradiologe um mit mir die Angiographie zu besprechen. Wir beide haben das Heu nicht auf der gleichen Bühne. Das merke ich sofort. Ich habe keine Ahnung, ob er einfach einen schlechten Tag hat, ob er eher etwas kauzig und mürrisch veranlagt ist oder ob ich ihm einfach nicht sympathisch bin. Es ist auch völlig egal, denn mittlerweile liegen meine Nerven so blank, dass ich einfach nur noch froh bin, dass es endlich vorwärtsgeht. Immer in der Warteposition, mit dem Gedanken, dass ich dem Ganzen ohnehin nicht entkommen kann, ist richtig mühsam. Es kostet mich unglaublich viel Energie.

      Der Spezialist erklärt mir das genaue Vorgehen. Der Nervenkrieg geht wieder von vorne los. Jetzt ist mir erst recht mulmig. Als wäre das nicht schon genug für mein Gemüt, höre ich von ihm auch noch beiläufig den Satz. „Ja, so eine Hirntumoroperation ist nicht ohne. Das ist ein großer Eingriff. Das darf man nicht unterschätzen.“ Diese Aussage sitzt. Ich bin ja nicht naiv oder dumm. Ich weiß, dass das kein Zuckerschlecken ist. Aber in dem Tempo, in dem alles in den letzten drei Tagen passiert ist und in meiner chaotischen psychischen Verfassung habe ich trotz der Todesangst und all meiner Gedanken bis jetzt immer noch nicht richtig realisiert, was diese Operation wirklich heißt, was da alles passieren kann und dass sie alles andere als ein Spaziergang ist.

      Das Vertrauen, das Dr. Lukes mir bei der Visite gegeben hat, ist jetzt mit diesem Satz zunichtegemacht.

      Wem und was soll ich denn jetzt glauben? Es kommt alles gut, ich muss mir keine großen Sorgen machen oder das ist ein schwieriger Eingriff und man weiß ja nie?!

      Ich bin völlig hin- und hergerissen und stecke in einem regelrechten Zwiespalt. Dass beides stimmen könnte, das kommt mir vor lauter Herrje nicht in den Sinn.

      Der interventionelle Neuroradiologe verabschiedet sich wieder. Ich bin froh, dass ich mit ihm nicht länger sprechen muss. Der Typ ist für mich wie Glatteis. Jemand, der zwischenmenschlich eher ein Elefant im Porzellanladen ist, kann ich im Moment nicht in meiner Nähe gebrauchen.

      Sacha und ich schauen uns nur an. Der Blick den wir austauschen spricht Bände.

      Kurz darauf werde ich für die Angiographie abgeholt. Mit einem tiefen Atemzug und einem: „Bis später“, verabschiede ich mich von Sacha, drücke ihm kurz einen Kuss auf den Mund und mache mich auf den Weg in die Höhle des Löwen. Irgendwie ergebe ich mich jetzt einfach der Situation. Es macht ja eh keinen Sinn negative Gedanken zu haben oder sich dagegen zu sträuben. Machen muss ich es sowieso. Dieses Sich-Ergeben ist wohl viel mehr eine unbewusste Taktik um nicht in eine lähmende Angst zu versinken, als eine eigentliche Resignation.

      In der Neuroradiologie muss ich als erstes in ein Spitalhemd schlüpfen. Unten ohne! Na super! Wer selber schon mal so ein Hemd tragen musste, weiß wovon ich rede. Das Hemd hat hinten einen Schlitz von oben bis unten. Zusammengehalten wird es nur oben mit einem kleinen Verschluss. Wenn ich mich auch nur ein kleines bisschen nach vorne neige habe ich das Gefühl mein ganzer Hintern schaut zum Schlitz heraus. Ich glaube, ich bin noch nie in meinem Leben so im hohlen Kreuz gegangen wie die paar Meter von der Umkleidekabine zum Untersuchungszimmer.

      Ich muss mich auf eine schmale Untersuchungsliege legen. Wenigstens bin ich jetzt das Hinternproblem los. Dafür spüre ich jetzt wie ein Adrenalinstoß durch meinen Körper jagt.

      Vor dem Untersuchungstisch stehen ganz viele Monitore. Eine Fachperson für medizinisch-technische Radiologie (MTRA) erklärt mir, wofür diese sind und