Poliklinik für Kieferorthopädie
Justus-Liebig-Universität Gießen
Dresdner Straße 5a
35435 Wettenberg
Hans Pancherz erhielt seine zahnärztliche und kieferorthopädische Ausbildung an der Fakultät für Zahnmedizin der Universität Lund in Malmö, Schweden. Er wurde 1974 zum Fachzahnarzt für Kieferorthopädie ernannt. Von 1975 bis 1985 war er außerordentlicher Professor an der kieferorthopädischen Abteilung der Universität Lund. Im Jahr 1985 wurde er zum Lehrstuhlinhaber an der Universität Gießen, Deutschland, ernannt, wo er von 1985 bis 2005 tätig war. Professor Pancherz hat 180 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht, von denen sich 101 mit der Herbst-Apparatur befassen. Er wurde als Referent zu mehr als 200 nationalen und internationalen Konferenzen auf der ganzen Welt eingeladen und hat zahlreiche Preise und Auszeichnungen erhalten.
Björn Ludwig
Dr. med. dent.
Kieferorthopädische Praxis
Am Bahnhof 54
56841 Traben-Trarbach
Jens J. Bock
Dr. med. dent.
Kieferorthopädische Praxis
Am Schlossgarten 1
36037 Fulda
Simon Graf
Praxis für Kieferorthopädie
Smile AG
Eichenweg 23
3123 Belp
Schweiz
Dirk Wiechmann
Prof. Dr. med. dent. Dr. h. c.
Prof. Wiechmann, Dr. Beyling und Kollegen
Lindenstraße 44
49152 Bad Essen
Inhalt
1 Mystik der Funktionskieferorthopädie
2 Wenn der Aktivator versagt – was tun?
3 Schrittweises Bite Jumping bis zum frontalen Kreuzbiss bei der Herbst-Behandlung
4 Extreme Klasse-II-Überkorrektur ohne nachfolgende Retention bei der Herbst-Behandlung
5 Initiale Probleme beim Tragen einer Herbst-Apparatur
Eine Tagebuchauswertung
6 Herbst-Behandlung der unilateralen Klasse-II-Dysgnathie
7 Effiziente Behandlung des Deckbisses (Klasse II:2)
8 „Headgear-Effekt“ der Herbst-Apparatur
Platzschaffung bei engstehenden Eck- und Schneidezähnen im Oberkiefer
9 Multibracket-Apparatur-Therapie bei ausgeprägten Klasse-II-Dysgnathien – immer mit einer Herbst-Vorbehandlung
10 Herbst-Behandlung mit Extraktion von vier Prämolaren
11 Der Unterkiefer-Frontengstand – ein ungelöstes kieferorthopädisches Problem
12 Extraktion eines Inzisivus im Unterkiefer bei der Herbst-Behandlung
13 Behandlung von erwachsenen Klasse-II-Dysgnathien
Ist die Herbst-Apparatur eine Alternative zur Kieferchirurgie?
14 Das Angle-Klasse-II-Gesichtsprofil und die Herbst-Apparatur
15 Die Herbst-Apparatur und das Kiefergelenk
16 Kauleistung und Kaumuskelaktivität bei der Aktivator- und der Herbst-Behandlung
17 Rezidiv nach der Herbst-Behandlung
18 Der Bisstyp – eine erweiterte Angle-Klassifikation
Vorstellung einer neuen Methode
19 CAD/CAM: Die nächste Evolutionsstufe für das Herbst-Geschiebe
Björn Ludwig, Jens J. Bock, Simon Graf, Dirk Wiechmann
Mystik der Funktionskieferorthopädie
Einleitung
Es gibt in der Kieferorthopädie viele Aussagen, die sich – ohne dass sie wissenschaftlich überprüft worden sind – mit den Jahren zu unwidersprochenen Dogmen entwickelt haben.
Dieser Artikel beschäftigt sich mit vier ausgewählten Doktrinen, bei denen es unsicher ist, ob sie in der modernen Kieferorthopädie noch Gültigkeit haben. Im Bereich der Distalbiss-Behandlung mit funktionskieferorthopädischen (FKO) Mitteln werden folgende mysteriöse Fragethemen angesprochen:
1.Wie definiert man ein FKO-Gerät?
2.Hat das Ausmaß und die Art der Unterkiefervorverlagerung eine Bedeutung für die FKO-Behandlung?
3.Kann das Unterkieferwachstum durch eine FKO-Behandlung stimuliert werden?
4.Sind abnehmbare oder festsitzende FKO-Geräte zu bevorzugen?
Was ist ein FKO-Gerät?
Es wird seit Einführung des Aktivators in die Kieferorthopädie1 behauptet: (1) Bei FKO-Geräten werden funktionelle Kräfte zum Gewebeumbau eingesetzt und es werden keine aktiv mechanischen Kräfte verwendet. (2) Körpereigene Kräfte, ausgelöst durch Muskelimpulse, werden auf Kieferbasen, Alveolarfortsätze und Zähne übertragen. (3) Das Kontraktionsmuster der Muskulatur normalisiert sich bei einer FKO-Behandlung. (4) Nur abnehmbare Geräte, die nicht mit Halteelementen an den Zähnen befestigt sind, kommen als FKO-Geräte infrage.
Seit der Wiedereinführung der Herbst-Apparatur in die moderne Kieferorthopädie2 wird die Apparatur in der englischen Literatur als „fixed functional appliance“ bezeichnet. Die Herbst-Apparatur arbeitet nicht mithilfe der Muskulatur, sie normalisiert aber ein abweichendes Kontraktionsmuster der Masseter- und Temporalis-Muskulatur während der Behandlung3.
Betrachtet man abnehmbare und festsitzende FKO-Geräte näher fällt auf, dass alle Geräte (abnehmbare wie auch festsitzende) bei der Klasse-II-Behandlung, nach dem Prinzip des Bite Jumpings4 arbeiten. Das Prinzip bedeutet eine Veränderung der sagittalen intermaxillären Zahnbogenrelation durch eine Vorverlagerung des Unterkiefers. Bei abnehmbaren FKO-Geräten ist es ein funktionelles Jumping (der Unterkiefer wird, gesteuert durch die Apparatur, mithilfe