Maya Shepherd

Schattenchance


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„Hältst du mich für so verantwortungslos, dass ich meine kleine Schwester alleine in ein Haus voller Schattenwandler lassen würde?“

      Rhona ging nicht darauf ein. Vermutlich hatte ich damit voll ins Schwarze getroffen. „Wo ist sie?“

      „Sie wartet im Auto auf mich und wenn wir nicht bald bei ihr auftauchen, wird sie die Polizei rufen.“

      „Die Polizei?“, wunderte sie sich. „Was will sie denn mit der?“

      Ich lachte über ihre Verblüffung. „Das habe ich sie auch schon gefragt. Sie kapiert nicht, dass die Polizei Schattenwandlern nichts anhaben kann. Wir stehen über allem und jedem!“

      „Das glaubst auch nur du“, wies sie mich zurecht. „Du gehst jetzt zu Winter und ich bringe eure Freundin nach nebenan. Dort treffen wir uns!“ Sie sah mich scharf an. „Wage es ja nicht, einen Umweg durch das Anwesen zu nehmen oder ich sorge dafür, dass du dich nicht einmal mehr an deinen eigenen Namen erinnerst!“

      Ich nahm ihre Drohung nicht ernst, aber ich schloss nicht aus, dass sie mir eine Lektion erteilen würde, sollte ich mich noch einmal ihrerAnweisung widersetzen, und so folgte ich lieber ihrer Aufforderung.

      Winter atmete erleichtert auf, als ich mich direkt neben ihr im Wagen materialisierte. Erleichtert schlang sie mir sogar die Arme um den Hals und klagte: „Du warst verdammt lange weg!“

      Seit ein paar Tagen benahm sie sich wirklich seltsam: Irgendwie rührseliger als sonst. Ich hatte sie noch nie verstanden, aber jetzt war sie mir wirklich ein großes Rätsel. Irgendetwas verbarg sie definitiv vor mir.

      Gemeinsam fuhren wir zurück zu dem Anwesen der Coopers, wo Dairines Vater ein Nickerchen auf dem Sofa im Wohnzimmer machte. Sein Schnarchen war bis in den ersten Stock zu hören. Rhona erwartete uns mit unserer Freundin bereits in deren Zimmer. Winter ließ sich sofort neben Dairine auf dem Bett nieder und strich ihr behutsam über die Stirn. Ihr war die Sorge ins Gesicht geschrieben und ich ertappte mich dabei wie ich mich fragte, ob Winter genauso fürsorglich reagieren würde, wenn statt ihrer besten Freundin ich dort liegen würde. Auch wenn sie sich in letzter Zeit mir gegenüber anders benahm, so war ich mir sicher, dass sie mich im Grunde genauso wenig leiden konnte wie ich sie. Wir waren zu unterschiedlich, um je Nähe zueinander aufbauen zu können. Sie war die Kluge, ich würde nicht einmal meinen Abschluss schaffen. Sie hatte Freunde, über mich redete jeder schlecht hinter meinem Rücken. Sie machte alles richtig, ich alles falsch. Alles, was uns verband, war unsere gemeinsame Kindheit. Wenn man es genau nahm, waren wir ja nicht einmal richtige Schwestern.

      Rhona wollte uns beide nach Hause bringen, doch Winter bestand darauf, bei Dairine zu bleiben, bis diese aufwachen würde. Ich fühlte mich fehl am Platz und so versuchte ich gar nicht erst, mich Rhona zu widersetzen, sondern folgte ihr ohne eine weitere Weigerung. Wir nahmen Winters Triumph Dolomite.

      Rhona sagte während der Fahrt kein Wort. Sie hatte die Lippen fest aufeinander gepresst und schien vor Wut zu kochen. Ihre langen blonden Wellen wehten im Fahrtwind, der durch das heruntergekurbelte Fenster in das Innere strömte. Der letzte Regenschauer war erst vorüber, doch der unverwechselbare Geruch nach Regen hing noch in der Luft. Rhona anzublicken war wie in den Spiegel zu schauen. Wir glichen einander so sehr, dass es mir fast unheimlich war. Bezog sich das wohl nur auf das Äußere?

      Irgendwann war das Schweigen so unerträglich, dass ich einfach etwas sagen musste. „Hast du dir Sorgen um mich gemacht?“, platzte es aus mir heraus und ich sah sie beinahe flehentlich an. Ich hasste es, wie verzweifelt ich mich dabei anhörte. Wie ein kleines Kind buhlte ich um ihre Aufmerksamkeit. Auch wenn ich es nicht gern zugab, so war mir doch wichtig, was sie von mir dachte.

      Sie fuhr zu mir herum, als hätte ich sie gerade beleidigt. „Natürlich mache ich mir Sorgen um dich“, stieß sie hervor. „Du bist die Tochter meiner Schwester!“

      Hätte sie mir eine Ohrfeige verpasst, hätte es weniger wehgetan. „Nein, bin ich nicht. Ich bin deine Tochter!“

      Sie sah mich an, als redete ich in einer fremden Sprache, die sie nicht verstand. Dann richtete sie den Blick wieder stur auf die Straße. Ich sah, wie ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, als sie das Lenkrad umklammerte. Auch wenn sie nichts erwiderte, erkannte ich, dass meine Worte etwas bei ihr auslösten. Bereute sie den Tag meiner Geburt? Würde sie es rückgängig machen, wenn sie könnte?

      Nachdem Rhona mich zu Hause in die Obhut von Susan begeben und ihr eingeschärft hatte, mich ja nicht wieder aus dem Haus zu lassen, langweilte ich mich. Ich hätte durch die Schatten abhauen können, ohne, dass Susan in der Lage gewesen wäre, es irgendwie zu verhindern. Aber was hätte es mir gebracht, außer weiteren, sinnlosen Diskussionen? Wo hätte ich hingehen sollen?

      Sonst, wenn mir die Decke auf den Kopf fiel, suchte ich Lucas auf, aber der war scheinbar immer noch sauer auf mich, denn seit dem Abend im devil’s hell hatte er sich nicht mehr bei mir gemeldet. Sollte er doch! Ich würde seiner bescheuerten Forderung, mich bei Evan zu entschuldigen, garantiert nicht nachkommen, da konnte er machen, was er wollte. Weder von ihm, noch von sonst irgendjemandem ließ ich mir etwas vorschreiben. Ich horchte in mich hinein und versuchte zu ergründen, ob ich ihn vermisste. Wir waren noch nicht lange ein Paar, jedenfalls nicht offiziell, gleichzeitig kam es mir vor, als wären wir nie etwas anderes gewesen. Wir hatten die Phase des Verliebtseins schlichtweg übersprungen. Wir wussten alles voneinander, kannten die Schwächen des anderen und vergaßen dabei manchmal, die Stärken zu schätzen. Er ging mir oft auf die Nerven, genauso wie er immer wieder den Kopf über meine unbedachten Aktionen schüttelte.

      Hätte man mich gefragt, warum ich mit ihm zusammen war, wäre meine Antwort gewesen: Weil er es so wollte. Nicht, dass ich ihn nicht gemocht hätte – Ich liebte ihn! Ich wollte mit ihm alt werden. Aber die Betonung lag auf alt. Wenn ich irgendwann alles im Leben erreicht und erlebt hätte, wovon ich träumte, dann sollte er der sichere Hafen sein, an den ich zurückkehrte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie wir mit Falten im Gesicht und grauem Haar in den Dünen im Sand sitzen würden und der Sonne beim Sinken zusahen. Lucas würde mich anblicken und für den Moment würde ich alle Leiden, die das Alter so mit sich brachte, vergessen und mich wieder wie das schöne und begehrenswerte Mädchen fühlen, das ich jetzt war. Lucas zeigte mir mit jeder Faser von sich, wie sehr er mich liebte. Ich zweifelte nicht daran, dass er alles für mich tun und mir alles verzeihen würde. Aber genau darin lag das Problem: Ich war mir seiner zu sicher. Er stellte keine Herausforderung dar, sondern war langweilig für mich geworden.

      Als wir noch kein Paar gewesen waren, hatte er immer wieder versucht, sich von mir fernzuhalten und Beziehungen zu anderen Mädchen aufzubauen. Es war aufregend gewesen, zu sehen, wie lange ich brauchte, um ihn doch wieder zu verführen. Er hatte mir auf längere Sicht nie widerstehen können, egal wie sehr er sich auch bemüht hatte. Es wunderte mich, dass es überhaupt noch Mädchen mit ihm versucht hatten. Denn jeder wusste, dass ich für das Scheitern jeder seiner Beziehungen verantwortlich war. Ich war die Ex, von der er einfach nicht die Finger lassen konnte. Die bloße Erinnerung brachte mich zum Schmunzeln.

      Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte es immer so weitergehen können, aber Lucas wollte das nicht. Er litt unter mir, meinen Launen und meinen Spielchen. Ich verletzte damit nicht nur ihn, sondern auch Winter. Sie konnte es kaum ertragen, dabei zuzusehen, wie ich mit ihm umsprang und ihn verstörte. Es war kein Geheimnis, dass sie in ihn verliebt war. Jeder sah es. Lucas wusste es. Aber auch das schien sich geändert zu haben.

      Es lag nicht an Evan, da war ich mir sicher. Ich wusste, wie meine kleine Schwester aussah, wenn sie in jemanden verliebt war. Ich kannte die schmachtenden Blicke, mit denen sie Lucas immer bedacht hatte. Evan sah sie nie so an. Dafür hatte ich ein Funkeln in ihren Augen bemerkt, als sie mich nach diesem Typen ausgefragt hatte. Wie war noch gleich sein Name gewesen? Liam Irgendwas? Moment mal! War es nicht Dearing gewesen? Dearing, wie ihr neuer Sportlehrer? Der heiße Typ, den sie im devil’s hell nicht aus den Augen gelassen hatte. Der heiße Typ, der geglaubt hatte, ich würde es nicht bemerken, wenn er mich beobachtete. War das möglich? Hatte meine kleine, unschuldige Schwester sich wirklich in ihren Lehrer verliebt und das auch schon, bevor er überhaupt an unserer Schule gewesen war? Verübeln konnte man es ihr definitiv nicht, Mr. Dearing war