Norbert Wibben

Raban und Röiven Die Figur der Hekate


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lässt mit »Solus« eine Leuchtkugel erscheinen, um alle Gegenstände auf dem Arbeitstisch besser betrachten zu können. Er schaut sich die Deckblätter der aufgeschlagenen Bücher an. Richtig, er erinnert sich. Er hatte sie in Barans Zimmer gesehen: »Magische Artefakte und deren Anwendung« und »Die Anwendung schwarzer Magie im Mittelalter«.

      Im ersten Buch liegt noch immer der Holzstab, der vermutlich ein Zauberstab sein könnte. Erneut betrachtet der Junge die Oberfläche des dunklen Holzes. Der Stab ist im Griffbereich mit Schnitzereien verziert. Die Maserung des Holzes glänzt leicht. Er rollt den kurzen Stab zwischen den Fingern. Er vernimmt jetzt ein feines Wispern. Das ist also ein echter Zauberstab, den Morgana wahrscheinlich zur Verstärkung ihrer magischen Kräfte einsetzen wollte. Doch warum hat sie ihn hiergelassen? Dort, wo der Stab im Buch steckte, liest er erneut die Anleitung, mit deren Hilfe Baran die Büste der Medusa zum Leben erweckt haben muss.

      »Wenn Morgana etwas mit der Figur der Hekate vorhatte, ist es besser, wenn ich sie an mich nehme«, überlegt Raban. »Ich werde auch diese Bücher und ihren Zauberstab mitnehmen. Falls sie hier wieder auftaucht, soll sie diese Gegenstände nicht nutzen können!«

      »Jo. Jepp. Das ist besser so!«, stimmt Röiven zu.

      Der Junge steckt den Zauberstab in eine Hosentasche, schließt beide Bücher und legt sie aufeinander. Während er das tut, scheint das grünliche Glimmen in den Augen der Hekate zu wachsen. Nimmt es tatsächlich zu? Raban ergreift die Figur vorsichtig mit zwei Fingern und betrachtet sie genauer. Erneut beschleunigt sich bei der ersten Berührung sein Herzschlag. Die bisher kleinen Lichtfunken sind tatsächlich größer geworden. Das grüne Leuchten scheint ihn zu hypnotisieren. Raban meint, zusätzlich ein feines Wispern zu hören. Als er außerdem eine leichte Vibration auf der Oberfläche spürt, stellt er die seltsame Gestalt erschrocken zurück.

      »Was ist los?«, fragt Röiven sofort. »Du bist ja richtig blass geworden. Stimmt etwas nicht?«

      »Ich weiß nicht. Die Figur ist mir unheimlich. Ich habe dir doch von meinem Traum erzählt, in dem Morgana durch ein helles, grünes Licht in die Figur gesaugt worden ist. Das glimmende Grün nimmt zu, sobald ich die Figur in der Hand halte. Außerdem habe ich eine Stimme gehört. Ich konnte aber nicht verstehen, ob und was das für Worte waren. Es ist fast, als ob Leben in der Figur steckt. Sie begann dann auch noch zu vibrieren.«

      »Was erzählst du da? Wie soll das denn möglich sein? Für mich hat sich nichts am Aussehen der Figur geändert.«

      »Ja, sie sieht jetzt völlig normal aus. Aber als ich sie in der Hand hielt, war es so. – Wie soll ich die Hekate dann mitnehmen? Ich muss sie sicher aufbewahren. Falls ein Zauber darauf liegen sollte, wie kann ich mich davor schützen?«

      »Ich weiß etwas, was du auch weißt!«, neckt der große Vogel. »Du bist doch sonst schnell von Begriff. Na –?«, keckert der Rabe. »Da hilft Silber, es unterbindet doch jeden Zauber!«

      »Stimmt. Wie konnte ich das nur vergessen? – Aber woher bekomme ich … Ha! Ich weiß schon. Warte einen Moment, ich bin gleich wieder hier.«

      Die Luft flirrt, noch bevor der Kolkrabe etwas erwidern kann.

      »Wow. Manchmal ist Raban sehr schnell, ein anderes Mal aber weniger. Wo er jetzt wohl hin ist?«, grübelt der schwarze Vogel noch, als der Junge bereits wieder erscheint. Nachdem das Gleißen verschwunden ist, fragt der Rabe: »Was willst du denn mit dem Vogelkäfig? Hast du den aus dem Kellerraum geholt, in dem Zoe und die anderen Fithich gefangen gehalten worden sind?«

      »Genau. Jetzt muss ich dir wohl auf die Sprünge helfen. Morgana hatte die ersten Käfige doch gegen neue ausgetauscht, die mit Silberdraht umflochten sind. Dies ist einer davon.«

      »Ja, jepp, gute Idee«, stimmt der Kolkrabe zu. »Natürlich wusste ich, dass dort geeignete Behälter zu finden sind. Ich wollte dir die Freude nicht nehmen, alleine darauf zu kommen. Hä hä hä«, keckert der Vogel.

      »Ja, ist schon gut. Deine Intelligenz ist meiner heute weit überlegen. Auch wenn deine klugen Augen auf meinem neuesten Bild von dir nicht zu sehen sind. Du weißt schon, die Silhouette …«

      »Dafür ist aber mein kräftiger …«, beginnt der Rabe, als auch schon beide in lautes Gelächter ausbrechen.

      Es dauert etwas, bis sie sich wieder gefangen haben.

      »Jetzt sollten wir schnell von hier verschwinden, damit ich mir trockene Klamotten anziehen kann. Ich bekomme sonst noch einen Sommerschnupfen.«

      »Ich verstehe nicht, warum du deine Kleidung nicht schon getrocknet hast«, entgegnet der Kolkrabe krächzend.

      »Dafür reichte das Feuer der wenigen Reste im Kamin doch nicht«, erwidert der Junge. Röiven hält seinen Kopf schräg und klappert mit den Augendeckeln. Auffordernd sagt der Vogel nur ein Wort:

      »Nun?«

      »Ähem. Du hast Recht«, stutzt Raban und schlägt sich eine Hand vor die Stirn. »Ich bin heute wohl nicht in Form. Wofür kann ich zaubern? – Renovo!«

      Ein leichtes Flimmern erscheint, dann sind nicht nur die Wasserpfützen auf dem Fußboden verschwunden, auch die Kleidung des Jungen ist trocken. Seine Haare liegen wie frisch gekämmt auf dem Kopf und sind auch nicht mehr nass. Raban schaut verlegen zu seinem Freund: »Danke! Darauf hätte ich auch früher kommen können.«

      »Kein Problem. Hab ich doch gern gemacht.«

      Der Junge nimmt nun die Figur der Hekate und meint, erneut das Vibrieren zu spüren, bevor er sie schnell im Käfig loslässt. Das grüne Leuchten ist auch bereits stärker geworden. Als er die Käfigtür schließt, reduziert es sich, bis nur noch kleine Punkte glimmen. Jetzt klemmt er sich die beiden Bücher unter den Arm, nimmt den Käfig hoch und blickt sich noch einmal prüfend um. Als Röiven sich auf seine Schulter setzt, flirrt die Luft.

      Der Raum ist verlassen.

      Wenige Wochen zuvor in Munegard.

      »So eine Sauerei! Verflucht! Elende Schlamperei! Wie konnte die Elfe entkommen?«, schäumt Gavin vor Wut. »Hast du etwa ihre silbernen Fesseln gelöst? Vielleicht, um dich bei ihr einzuschmeicheln?« Seine Augen schleudern Blitze in Richtung des verdattert dastehenden Oskars. Dieser ist gerade von einem Kontrollbesuch in Sorchas Gefängniszelle zurückgekommen. Die Tür hatte er wie immer verschlossen vorgefunden, aber der Raum war leer. Die in der Mauer verankerte Kette, mit der die Gefangene zusätzlich am Verlassen des Raumes gehindert werden sollte, war gesprengt worden. In der ersten Aufregung hatte Oskar den Raum durchsucht, in der verzweifelten Hoffnung, die Elfe doch noch irgendwo zu entdecken, obwohl es für sie dort kein Versteck gab. Erfolglos rannte er zu Gavin zurück, um zu berichten.

      Jetzt schluckt und schluckt Oskar nervös. Er ringt seine Hände und versucht vergeblich, zu Wort zu kommen. Als Gavin endlich aufhört, sinnlose Verwünschungen auszusprechen oder ihn zu beschuldigen, holt er tief Luft und sprudelt los.

      »Warum sollte ich so eine Dummheit begehen? Wer hat denn die Elfe überwältigt? Das war ICH. DU verfügst bereits über Zauberkräfte, hat das etwa das Entkommen der Elfe verhindert? Nein! Wer erleidet einen Verlust? ICH, da ich Zauberkräfte von der Elfe erlangen wollte, was jetzt unmöglich ist. Wer hätte also einen Grund, sich zu empören? ICH. Aber tue ich das? NEIN! Es ist eines wahren Zauberer des Mondes unwürdig, sich derart aufzuregen und haltlose Beschuldigungen auszustoßen. Und du willst sogar unser zukünftiger Anführer sein? Ein wirklicher Führer poltert nicht einfach los, ohne vorher sorgfältig die Fakten zu prüfen. Um dann gezielt zu überlegen, was in der Situation angemessen ist, das Problem zu lösen. Wir sind doch nur zu zweit hier. Ich habe der Elfe NICHT zur Flucht verholfen, weder bewusst noch unabsichtlich. Aber du warst zuletzt bei ihr. Bist du sicher, dass für dich das Gleiche zutrifft?« Nach dieser langen Rede schweigt Oskar. Seine Lippen sind zusammengekniffen und