Norbert Wibben

Raban und Röiven Die Figur der Hekate


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der Zauberer, um dann doch innezuhalten. Aufgewühlt eilt er mit langen Schritten durch den Raum, den er als sein Lieblingszimmer betrachtet. Hier gibt es Bücherregale und einen alten Schreibtisch. Wenn Gavin die Geschichte über Eila gelesen hätte, wüsste er, dass dies die Bibliothek Bearachs war, der der letzte Anführer der Dubharan vor 100 Jahren gewesen ist.

      Nachdem er sich etwas beruhigt hat, beginnt er erneut: »Ich habe keine ihrer Fesseln gelöst! Sie war außerdem schon sehr geschwächt. Selbst ich hätte die Ketten nicht sprengen können. Jedenfalls nicht ohne Hilfsmittel oder Zauberei. Hm. Sollte ihr Befreier ungesehen hier eingedrungen sein? Und wenn das so ist, wer könnte das gewesen sein?«

      »Ob das vielleicht Morgana …«, beginnt Oskar zaghaft, wird aber sofort unwirsch von Gavin unterbrochen.

      »Nein. Warum sollte Morgana so etwas tun? Außerdem ist sie meine Cousine, der ich – vertraue.« Erst wollte er »völlig vertraue« sagen, schwächte das dann aber doch ab. Auch wenn sie vom gleichen Blut sind, wer kann schon sagen, aus welchem Grund sie möglicherweise diese unsinnige Tat durchführen sollte. Aber wenn das für sie einen Vorteil bedeuten würde, wäre das vielleicht … Hier wird er in seinen Grübeleien unterbrochen.

      Oskar hat sein kurzes Stocken nicht bemerkt und fragt: »Wenn wir Morgana also ausschließen können, muss das eine andere Elfe mit Zauberkräften gewesen sein. Aber woher wusste diese, dass wir eine von ihnen hier gefangen halten? Oder sollte …?«

      Jetzt schweigt Oskar und grübelt, als Gavin sofort nachhakt.

      »Was meinst du mit: »oder sollte …?« Hast du eine Idee?«

      Oskar will ihm den Verdacht, der plötzlich in seinem Kopf aufblitzte, nicht mitteilen. Er hatte Gavin nichts davon gesagt, dass er vor wenigen Tagen in den geheimen Wald eingedrungen war und ihn einige der Elfen verfolgt hatten. Sollten sie ihn weiter als bis zum Auto verfolgt haben, sogar bis hierher? Auch wenn er das für unwahrscheinlich hält, will er das dem Zauberer lieber nicht erzählen, um sich nicht dessen Spott auszusetzen.

      Laut bietet er geschickt eine andere Möglichkeit an: »Wir hatten doch die Raben und ihre Nester geraubt. Sollte uns einer von ihnen beobachtet und die Elfe aus Rache befreit haben?« Ihm kommt diese Möglichkeit wenig plausibel vor, doch anders weiß er die Situation nicht zu retten.

      Erstaunt blickt er nun in Gavins Gesicht, als dieser entgegnet: »Du bist gar nicht so … Ich will sagen, du besitzt zwar keine Zauberkräfte, aber dafür offenbar einen klaren Verstand. Ich stimme dir zu, das wäre eine Möglichkeit. Ich weiß zwar nicht, wie ein normaler Rabe das anstellen sollte, aber vielleicht war das einer, der zaubern kann. Ja, so wird es gewesen sein.« Obwohl er diese Möglichkeit bereits als bewiesen betrachtet, läuft er noch einige Zeit grübelnd in seinem Zimmer auf und ab.

      Die beiden Nachkommen der Dubharan wissen nicht, dass sie zum Teil mit dieser Vermutung Recht haben. Der Kolkrabe Röiven hat Raban geholfen, Sorcha zu befreien. Doch es geschah nicht aus Rache, sondern aus Freundschaft zur Elfe und zum Wohl aller guten Menschen und Elfen.

      »Reisen mit dem magischen Sprung hat seine guten Seiten«, beginnt Raban, als sie zurück in seinem Zimmer sind. Er deponiert die Bücher auf seinem Schreibtisch und stellt den Vogelkäfig darauf. Den Zauberstab legt er zusammen mit dem Tarnumhang in die oberste Schublade in der Mitte. Dann fährt er fort: »Es ist nicht nur, dass das sagenhaft schnell geht, man bleibt dabei auch noch völlig trocken.«

      »Jedenfalls dann, wenn man nicht außerhalb eines Gebäudes im strömenden Regen ankommt«, keckert Röiven und flattert zum Tischchen neben dem Bett des Jungen. Dort hockt er sich hin und legt seinen Kopf schräg.

      »Wie wäre es mit einer kleinen Stärkung? Du hast doch sicher noch etwas Schokolade. Die täte jetzt wirklich gut!« Der schwarze Vogel klappert mit seinen Augendeckeln und blickt erwartungsvoll zu seinem Freund.

      »Bevor du zu Schauspielern beginnst, wie schwach du nach unserem kurzen Ausflug nach Mynyddcaer bist«, lacht der Junge, »werde ich schnell das von dir geschätzte Stärkungsmittel holen.« Er geht zu seinem Schreibtisch hinüber und entnimmt dessen mittlerer Schublade eine Tafel Schokolade, die er sofort auspackt und in einzelne Brocken zerteilt. Zuerst legt er für Röiven mehrere davon auf das Tischchen und steckt sich dann selbst eins in den Mund. Der Kolkrabe schnappt sich sofort das erste Stück, dem schnell das nächste folgt. Es dauert nicht lange, dann ist die komplette Tafel verputzt.

      »Das war wirklich gut, aber auch notwendig«, kommentiert der Rabe die Leckerei.

      »Das freut mich. Dir geht es also wieder besser, und du bist im Vollbesitz deiner geistigen und körperlichen Fähigkeiten?«

      Der Vogel beäugt den Jungen misstrauisch.

      »Was soll diese seltsame Einleitung? Auch wenn ich körperlich mal etwas geschwächt bin, so wie gerade eben noch, sind meine geistigen Fähigkeiten immer auf der Höhe! Keine Frage! Pö!« Röiven dreht sich empört etwas vom Jungen weg und schaut demonstrativ zum Fenster hinaus. Da der Regen unvermindert vom Himmel fällt, läuft das Wasser immer noch über die Scheibe und behindert den Blick nach draußen.

      »Ich wollte dich nicht beleidigen, mein Freund«, versucht Raban den Vogel zu beruhigen. »Bei dem Regen kannst du dort nicht viel sehen, also schau mich an, bitte. Ich will dir erklären, weshalb ich mich so ausdrückte. – Komm schon, Röiven!«

      Der große Vogel dreht seinen Kopf ganz langsam vom Fenster weg, um sich dann mit einem Satz schnell zum Jungen umzudrehen.

      »Ich bin nicht beleidigt! Wir sind doch Freunde. Ich musste mich beim Überlegen nur konzentrieren, was mir besser gelingt, wenn ich sozusagen nichts sehe. Darum habe ich zum Fenster geschaut. Hätte ich die Augen geschlossen, hättest du denken können, ich sei eingeschlafen.« Dann keckert der Rabe laut lachend: »Hey, das war Spaß. Ich wollte dich nur ein bisschen necken, weil du so komisch zu Reden angefangen hattest.«

      »Du bist ja ein richtiger Schelm. Immer zu einem Jux bereit. – Aber jetzt zurück zu meinem Anliegen.«

      »Zu was? Anliegen? Du drückst dich heute aber richtig gestelzt aus«, giggelt der Rabe.

      »Das wollte ich nicht. Ich weiß auch nicht. Vielleicht sind das Nachwirkungen von dem grünen Licht aus den Augen der Figur, oder vielleicht von deren Gewisper? – Doch lassen wir das. Ich muss dringend mehr über die Figur oder über die Bedeutung der Hekate herausbekommen. Dafür muss ich vielleicht wieder den Schulcomputer nutzen, um im Internet zu recherchieren.« Hier unterbricht ihn der Rabe:

      »Ich soll doch wohl nicht wieder Wache auf dem Baum vor der Schule schieben, während du in diesem Interdings nach Informationen suchst? Das ist doch voll langweilig. Außerdem regnet es immer noch, da ist das zusätzlich sehr ungemütlich.«

      »Beruhige dich, mein Freund. Das wäre zwar eine Möglichkeit, aber keine Herausforderung für deine Intelligenz. Nein. Ich werde meinen Großvater besuchen und ihn fragen. Er kennt sich in der griechischen Mythologie gut aus. Er gab mir im letzten Jahr auch den Hinweis, den versteinerten Baran vor dem Museum in der Hauptstadt abzustellen. So wie er es vermutet hatte, wurde dieser für eine Skulptur des Perseus mit dem Haupt der Medusa gehalten. Vermutlich kennt er sich auch mit Hekate aus. Falls ich bei ihm nicht genug Informationen bekomme, werde ich erneut das Museum in der Hauptstadt besuchen, aber zu einer normalen Öffnungszeit. Dort kann ich sicher reichlich Auskünfte bekommen.«

      »Und was hat das mit meinen geistigen Fähigkeiten zu tun«, will der Rabe wissen, während er seinen Kopf schräg hält und den Jungen abwartend anschaut.

      »Ich nannte nicht nur deine geistigen, sondern auch deine körperlichen Fähigkeiten. Während ich recherchiere, sollst du Sorcha besuchen.«

      »Das ist doch keine körperliche oder geistige Herausforderung!«, empört sich Röiven.

      »So