Emile Zola

Die Bestie im Menschen


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schlecht unterhaltenen Fußpfade gelangen, der längs der Bahnstrecke führt. Aber auch dort sieht man nur selten Leute.

      An dem Abend aber, an welchem unsere Erzählung begann, sah man gegen Dunkelwerden bei einer milden, aber trüben Witterung einen Reisenden, der den Zug in Barentin verlassen hatte, mit lang ausholenden Schritten den Fußpfad nach la Croix-de-Maufras verfolgen. Das Gelände bildet hier eine ununterbrochene Folge von Thälern und Abhängen und durch dieses wellige Land führt die Eisenbahn abwechselnd auf künstlich aufgeschütteten Dämmen und in der Tiefe zwischen den Bergen. Dieser beständige Terrainwechsel, die Höhen und Tiefen zu beiden Seiten der Strecke, verhindern die Anlegung von Landstraßen. Das Gefühl großer Einsamkeit wird dadurch noch vermehrt; das dürre, weiß schimmernde Erdreich ist unbebaut geblieben; halbwüchsige Bäume krönen einige Schwellungen des Bodens, während tief unten durch die Thäler von Weiden beschattete Bäche rieseln. Wieder andre, kreidige Anhöhen sind vollständig nackt und unfruchtbare Abhänge folgen sich; das Schweigen und die Bangigkeit des Todes lagert über der Gegend. Der junge, kräftige Reisende beschleunigte seinen Schritt, als wollte er der Traurigkeit dieses milden Halbdunkels über diesem einsamen Stückchen Erde entrinnen.

      In dem Garten beim Bahnwärterhäuschen schöpfte eine große, kräftige Blondine, ein achtzehnjähriges junges Mädchen mit starken Lippen, grünlich schimmernden Augen und einer niedern Stirn unter den schweren Haarflechten Wasser aus dem Brunnen. Niedlich konnte man sie kaum nennen, denn sie hatte kräftige Hüften und muskulöse Arme wie ein Mann, Als sie eben den den Fußpfad heruntersteigenden Fremden bemerkte, ließ sie den Eimer fallen und eilte vor die durchbrochene Thür, welche die lebendige Hecke abschloß.

      »Oho! Jacques!« rief sie.

      Jener blickte auf. Er mochte sechsundzwanzig Jahre zählen und war ebenfalls groß gewachsen und sehr gebräunt, ein hübscher Bursche mit einem runden regelmäßigen Gesicht, das leider zu stark entwickelte Kinnbacken verunzierten. Seine dicht stehenden Haare, ebenso sein Schnurrbart lockten sich so tiefschwarz, daß dadurch das Fahle seiner Gesichtsfarbe noch verstärkt wurde. Die Feinheit seiner auf den Backen glattrasirten Haut hätte auf einen Herrn der besseren Gesellschaft schließen lassen, wenn man nicht auf der andern Seite die untilgbaren Merkmale des Handwerkers erblickt haben würde: die Schmiere, welche seine Mechanikerhände schon gelb zu färben begann; übrigens waren diese Hände trotzdem klein und geschmeidig.

      »Guten Abend, Flore,« gab er zurück.

      Aber seine Augen, die so lange groß und schwarz in die Welt geblickt hatten, schienen zu erbleichen, als blende sie ein röthlicher Dunst. Die Lider klappten auf und nieder und die Augäpfel wanderten zur Seite. Ein Gefühl unsäglicher Verlegenheit, ja des Uebelseins ließ ihn furchtbar leiden; selbst der ganze Körper machte eine instinktive Rückwärtsbewegung.

      Sie stand unbeweglich da. Ihre Blicke waren fest auf ihn gerichtet, so daß ihr das unfreiwillige Erzittern, dessen er vergebens Herr zu werden sich bemühte, nicht entgangen war. Sie kannte es bereits, es überfiel Jenen jedesmal, wenn er sich einem weiblichen Wesen näherte. Sie schien darüber ernst und traurig gestimmt. In seiner Verlegenheit, die er gern verborgen hätte, fragte er sie, ob ihre Mutter zu Hause wäre, obwohl er ganz genau wußte, daß diese leidend und nicht im Stande war, fortzugehen. Sie antwortete durch ein bloßes Nicken mit dem Kopfe und trat zur Seite, damit Jener sie beim Vorübergehen nicht zu streifen brauchte. Dann ging sie, ohne weiter ein Wort zu verlieren, stolz aufgerichtet zum Brunnen zurück.

      Jacques durchschritt eilig den schmalen Garten und betrat das Haus. Im ersten Gemach, einer mächtigen Küche, die gleichzeitig Speise- und Wohnzimmer, saß einsam am Tisch in einem Strohstuhle, die Füße mit einem alten Shawl umwickelt, Tante Phasie, wie man sie schon als er noch ein Kind nannte. Sie war eine Cousine seines Vaters, ebenfalls eine Lantier, die gleichzeitig seine Pathe war und ihn im Alter von sechs Jahren zu sich genommen hatte, als seine Eltern plötzlich nach Paris ausgerückt waren und ihn in Plassans, woselbst er auch später die Gewerbeschule besuchte, zurückließen. Es war seit jener Zeit in ihm ein Gefühl lebhafter Erkenntlichkeit zurückgeblieben; daß er seinen Weg gemacht habe, dankte er nur ihr, behauptete er. Als er Locomotivführer erster Klasse bei der Westbahngesellschaft geworden war, nachdem er zwei Jahre bei der Bahn in Orleans gearbeitet hatte, fand er seine Tante mit ihren beiden Töchtern erster Ehe an einen Bahnwärter, namens Misard verheirathet in diesem verlorenen Winkel von la Croix-de-Maufras wieder. Heute sah die ehemals so große und kräftige Tante Phasie, trotzdem sie kaum fünfundvierzig Jahre zählte, abgemagert und eingeschrumpft, von fortwährenden Schauern durchschüttelt, wie eine Sechzigerin aus.

      Sie stieß einen Ruf freudigen Erstaunens aus.

      »Wie, du bist es, Jacques! ... Ach, welche Ueberraschung, mein großer Junge!«

      Er küßte ihr die Wangen und erzählte ihr, daß er einen zweitägigen, unfreiwilligen Urlaub habe nehmen müssen: seine Lokomotive, die Lison, habe des Morgens bei der Ankunft in Havre einen Bruch an der Treibstange erlitten; die Reparatur dauere vierundzwanzig Stunden, er trete also seinen Dienst erst am Abend des folgenden Tages, zum sechs Uhr vierzig Schnellzug wieder an. Er habe die Gelegenheit benutzt, um sie umarmen zu können. Er wolle hier übernachten und erst morgen früh mit dem Zuge um sieben Uhr sechsundzwanzig Minuten von Barentin aus zurückkehren. Und während er ihre armen abgezehrten Hände umfaßt hielt, erzählte er ihr, wie sehr ihn ihr letzter Brief beunruhigt habe.

      »Ach ja, mein Junge, so geht es auch nicht mehr weiter. Wie nett von Dir, daß Du meinen Wunsch, Dich zu sehen, errathen hast. Aber ich weiß, wie schwer Du loskommen kannst, daher wagte ich es nicht, Dich hierher zu bitten. Jetzt bist Du da und ich habe so viel auf dem Herzen!«

      Sie unterbrach sich und warf einen mißtrauischen Blick durch das Fenster. In der fortschreitenden Dämmerung sah man jenseits der Strecke ihren Mann Misard auf seinem Posten in einer der Holzbuden, die alle fünf oder sechs Kilometer aufgestellt und zur Sicherstellung des Verkehrs untereinander telegraphisch verbunden sind. Während seine Frau und später Flore mit dem Dienst bei der Uebergangsbarriere betraut waren, mußte er selbst das Amt eines Bahnwärters versehen.

      Sie senkte sich schüttelnd die Stimme, als ob er sie hätte hören können.

      »Ich glaube fest, er will mich vergiften!«

      Jacques sprang bei dieser vertraulichen Mittheilung überrascht auf. Auch seine Augen wandten sich dem Fenster zu und er fühlte von Neuem, wie ein schwacher, rother, mit goldenen Punkten besäter Schleier den klaren Blick seiner schwarzen Augen verdunkelte.

      »Aber welcher Gedanke, Tante Phasie!« murmelte er. »Er sieht ja so sanft und nachgiebig aus.«

      Ein Zug nach Havre mußte im nächsten Augenblick vorüberkommen. Misard war aus dem Wachthäuschen getreten und hatte die Barriere hinter sich geschlossen. Während er durch einen Druck auf den Hebel das Signallicht sich in ein rothes verwandeln ließ, betrachtete ihn Jacques. Er war ein kleiner, abgezehrter Mann mit einem armseligen durchfurchten Gesicht und farblosem spärlichem Haarwuchs; augenscheinlich ein schweigsamer, sich bei Seite drückender, geduldiger und vor seinen Vorgesetzten buckelnder Beamter. Inzwischen war er in die Bretterbude zurückgegangen, um in sein Wachtbuch die Zeit des Vorbeipassirens des Zuges zu vermerken und an zwei Knöpfen der elektrischen Leitung zu drücken. Der eine meldete dem rückwärts stationirten Wärter, daß der Weg frei sei, der andre dem nächsten, daß der Zug komme.

      »Ach Du kennst ihn eben nicht,« begann Tante Phasie von Neuem. »Ich sage Dir, irgend eine Gemeinheit hat er mir angethan ... mir, die ich so stark war, daß ich diesen Menschen mit Haut und Haaren hätte essen können und nun frißt mich dieses Nichts, dieser Knopf von einem Manne bei lebendigem Leibe auf!«

      Ihr dumpfer und scheuer Haß ließ sie sich ins Fieber reden. Sie leerte ihr Herz aus, entzückt, einen Zuhörer zu haben. Wo hatte sie nur ihren Kopf, als sie diesen Habenichts, diesen geizigen Duckmäuser heirathete, sie, die um fünf Jahre älter war als er und schon zwei Töchter, damals im Alter von sechs und acht Jahren besaß? Jetzt waren es bald zehn Jahre her, seit sie diesen Geniestreich ausgeführt und bisher hatte sie ihn noch in jeder Stunde zu bereuen gehabt: ein Leben voller Elend, wie verbannt in diesem eisigen Winkel des Nordens, der sie schaudern machte, langweilig zum Sterben und keinen Menschen, nicht einmal