ihrem Hals und überreicht es Saragunde. »Dies ist das einzig Wertvolle, das Halamor mir ließ. Ich schloss all meine Sonnenkraft darin ein und verbarg so seine wahre Macht vor ihm. Es ist die Quelle der heiligen Kraft meines Volkes. Auf keinen Fall darf es in seine dunklen Hände geraten, sonst ist unsere Welt dem Licht für immer verloren.« Sorana trinkt einen Schluck aus dem Kelch, den Saragunde ihr reicht. »Du bist eine Magierin aus dem Volk der Merowinger. Deiner Lichtmagie wird es sich anvertrauen. Teile es und seine Macht wird bewahrt sein, bis zu dem Tag an dem sich alles entscheidet. Überbringe eine Hälfte an meine Tochter, am Tag ihrer Volljährigkeit. Sobald sie es trägt, wird mein Licht auf sie übergehen. Verkünde ihr die Prophezeiung, die du in meinen letzten Minuten hören wirst. Den anderen Teil bringe in die Anderwelt.«
Saragunde holt tief Atem, doch Sorana schüttelt kaum merklich den Kopf. »Ihr Merowinger besitzt wie kein anderes Volk die Gabe, in die Anderwelt zu reisen. Finde dort ein Kind, dessen Seele rein ist und dessen Herz, überwuchert von der Blume des Schmerzes, sich nach dem Licht der Liebe verzehrt. Hinterlasse diesem Kind ein Tor, auf dass es den Weg in unsere Welt findet, wenn es an der Zeit ist. Mit der Sehnsucht dieses Kindes aus der Anderwelt und mithilfe des Amuletts meiner Ahnen, wird am Tag der Entscheidung das Licht in unsere Welt zurückkehren.« Sorana sucht Saragundes Blick. »Schwörst du es?«, fragt sie flehend.
»Ich schwöre bei allem, was meinen Ahnen heilig ist«, antwortet die Heilerin und greift ehrfürchtig nach dem Amulett.
In dieser Nacht gebiert die Königin. Saragunde legt der Geschwächten den Säugling auf den nackten Bauch. Im Augenblick, in dem sich die Wärme von Mutter und Kind verbindet, löst sich Soranas Aura. Hüllt sich, einem Schutzmantel gleich, um den knittrigen Körper des Mädchens und um die Heilerin, bis sie im Inneren des Neugeborenen eingeschlossen ist. Mit einer Stimme, fern, wie aus einer anderen Sphäre, verkündet die Königin: »Du bist Mirianda, Tochter Halamors des Dunklen und Tochter Soranas, der im Licht Geborenen. Möge die Kraft meiner Liebe dich und die deinen nie verlassen. Aus Gegensätzen schaffe ein Ganzes. Ist wieder vereint, was Halamor trennte, wird seine Macht gebrochen sein!«
Mit diesen Worten verlöscht das Licht. Soranas von der Dunkelheit geschwächtes Herz hört auf zu schlagen. Behutsam nimmt Saragunde Mirianda auf, hebt sie hoch über ihren Kopf, zeigt sie den Dienerinnen. »Ihr hörtet, was die Königin sprach. Dieses Kind wird uns von Halamors Dunkelheit befreien. Schützen wir es mit unseren Körpern und mit unserem Schweigen!«, fordert sie die sie umringenden Frauen auf. »Ein Wort von dem, was ihr hier erlebt und gehört, und eure Kinder mögen zu Staub zerfallen!«, zischt Saragunde.
Die Heilerin badet und wickelt den Säugling und bringt ihn zum König. Sie überreicht ihm das lebendige Bündel. »Sorana ist verstorben, aber vorher gab sie deinem Kind den Namen Mirianda.«
Halamor sieht sie mit finsterem Blick an. »Verschwinde aus meinem Schloss!«, befiehlt er.
Saragunde lacht hart. »Ich werde gehen. Doch einmal noch werden wir uns wiedersehen.«
Seine Adern an den Schläfen färben sich dunkel und pulsieren.
»An Miriandas siebzehnten Geburtstag werde ich zurückkehren, um ihr die Wünsche ihrer Mutter zu überbringen.«
Halamor springt auf, den Zeigefinger der Schwerthand drohend auf die Heilerin gerichtet. »Nie wieder wirst du dieses Schloss betreten, oder du bist des Todes«, brüllt er sie an.
Ein wissendes Lächeln huscht über Saragundes Gesicht. »Indem ich deiner Tochter mit meiner Magie ins Leben verhalf, hast du dich an mich gebunden. Soranas letzte Atemzüge galten einem Schutzzauber für deine Tochter, in den sie mich einschloss. Brichst du ihn, wird dein Geschlecht mit dir untergehen.« Mit diesen Worten wendet sie ihm den Rücken zu und verlässt das Schloss.
Miriandas Reise
Miriandas Gesicht ist tränennass. Ihr Körper ist vom Erlebten wie betäubt. Lautes Gekreische holt sie aus ihrer Erstarrung in die Gegenwart zurück. Einen letzten Blick erhascht sie auf Saragundes Traumgestalt, die einem vergehenden Regenbogen gleich, in der Dämmerung entschwindet.
Noch immer hockt Mirianda auf dem Sessel im Pavillon. Auf dem Tisch steht unberührt die Karaffe mit Wasser. Die Heilerin ist verschwunden. Nur ihr Umhang liegt leer auf dem Kissen ihres Stuhls. Der Himmel ist schwarz und drohend. Hunderte Krähen verdunkeln ihn, laut kreischend ziehen sie ihre Kreise.
Mirianda nimmt den Umhang auf den Schoß. Sie streicht mit den Fingern über das kühle Metall an ihrer Brust. Saragunde war kein Traumgespinst. Sie friert. Was sie wie im Traum sah und hörte, ist die Wahrheit. Das Amulett ist dafür ebenso Beweis, wie ihre im Dämmerlicht hell schimmernde Haut. Ihr geliebter Vater Halamor ist ein Magier, ein Weltverdunkler, ein Krieger und ein Menschenschinder. Er war der Schänder ihrer Mutter. Er war schuld an ihrem Tod. Eine ungekannte Kälte kriecht durch Miriandas Körper, breitet sich aus. Sie hebt den Blick gen Himmel. Nicht die Krähen irritieren sie. Es ist die fehlende Helligkeit. Die Dämmerung nicht mehr eine weitere Schandtat des Königs, seine erste vielleicht. Doch es gibt eine Welt hinter den Wolken. Jetzt kennt sie die Sonne. Ihre Mutter war Königin Sorana, die im Licht Geborene.
Mirianda verlässt den Pavillon, steigt Stufe um Stufe zum Schloss empor. In den Fenstern sucht sie nach der Gestalt des Vaters. Er zeigt sich nicht. Kurz entschlossen wirft Mirianda sich den Umhang der Heilerin über. In der Ferne hört sie das heisere Krächzen der Krähen. Die Tochter des Königs schleicht an ihrem siebzehnten Geburtstag, um Jahre gealtert, aus dem väterlichen Schloss. Nur einmal dreht sie sich um, wirft einen Blick auf sein Turmzimmer. In ihrem Gesicht spiegeln sich Trauer und Angst. Ein greller Lichtblitz erhellt den Himmel über dem Turm, in dessen Fenster sie den Schatten des Halamors erkennt.
Drei Tage und Nächte läuft Mirianda, ohne innezuhalten. Keiner Menschenseele begegnet sie. Sie meidet die Siedlungen der Menschen. Die Gefahr erkannt zu werden ist groß. Sie kennt ihren Weg nicht, noch ihr Ziel. Sie folgt dem Schwarm der Schwarzgefiederten, der sie seit jenem Tag im Pavillon begleitet. Bis auf die einsilbigen Unterhaltungen mit einer Krähe, die sich mutig auf ihrer Schulter niederlässt und in der sie den Geist Saragundes erahnt, spricht sie kein Wort. Versunken in ihre düsteren Gedanken läuft sie Schritt um Schritt. Am dritten Tag sinkt sie erschöpft am Ufer eines Sees zu Boden, trinkt gierig von dem klaren Wasser, legt sich nieder und schläft ein. Im Traum hört sie fernes Gewisper. Wirft sich ruhelos von einer Seite auf die andere, doch die Stimmen kommen immer näher.
Blinzelnd öffnet Mirianda die Augen und sieht sich umringt von fünf moosbewachsenen Gestalten. »Warum stört ihr meinen Schlaf?«, fragt sie.
»Wir wollen nicht stören«, antworten die Wesen im Chor, wie aus einem Mund. »Wir sind die Mingowen, die Moosigen. Wir fanden dich im Schlaf der Erschöpfung am Rande des dunklen Sees. In den Wäldern hörten wir die Häscher Halamors nahen, deshalb brachten wir dich in Sicherheit.«
»Wo ist in Sicherheit?«, fragt Mirianda, sich unauffällig umsehend.
»Im Schloss von König Erdschwer.« Die Umstehenden wackeln mit den moosigen Köpfen. »Hier im Inneren der Erde leben wir seit Anbruch der großen Dämmerung.« Die Mingower versinken in düsterem Schweigen.
»Ach papperlapapp«, ruft eine Mingowin aus, der das Moos wie ein Bart im Gesicht zu wachsen scheint. »Was stehen wir hier rum und reden und reden und das arme Kind verhungert!« Energisch erhebt sie sich.
»Aber ihr wisst doch gar nicht, wer ich bin?«, wehrt sie ab.
»Pah, das weiß doch jedes Kind« lacht die Moosige. »Die Prophezeiung besagt, das Mirianda, Tochter der Sorana und des Halamor, aus Gegensätzen ein Ganzes schaffen wird und wieder vereint, was Halamor einst trennte. Und Kind, glaub mir, seit Beginn der Dämmerung haben wir nie wieder einen Menschen so hell leuchten sehen wie dich.«
Die Mingowen lachen.
»Mir für meinen Teil genügt das«, fügt die Moosige forsch hinzu.
»Wir kennen und wir wissen«, murmeln die anderen Mingowen und verneigen sich vor Mirianda.
»Schluss jetzt!«, poltert die Moosige. »Wir gehen