Gänge. Wände aus purem Gold, dessen weicher Glanz das Licht reflektiert und so die Räume heller scheinen lässt. Getrieben von Hunger und Neugier vergisst sie, dass sie hunderte Klafter tief ins Innere der Erde läuft. Unzählige Biegungen später erreichen sie einen taghell erleuchteten Saal. Mirianda kneift die Augen zusammen. Sie folgt mit dem Blick den Stimmen der Mingowen. Munter schwatzend lassen sie sich an einer reich gedeckten Tafel nieder. An der Stirnseite sitzt ein stattlicher Mann. Dunkle Locken und ein schwarzer Bart umrahmen sein Gesicht.
»Ihr müsst König Erdschwer sein«, entfährt es ihr. Seine freundlichen und sanften Gesichtszüge ziehen sie an. Mit einer einladenden Geste fordert er sie auf, neben ihm Platz zu nehmen. Schweigend essen Erdschwer und Mirianda, einander unauffällige Blicke zuwerfend und scheinbar den Gesprächen der Anwesenden lauschend. Wie aus weiter Ferne hört sie die Moosige.
»Das Feuer ist entfacht, der Wein entkorkt, möge der Funke springen.« Mit diesen Worten beugt sie sich vor und flüstert Mirianda zu »Falls Ihr unsere Hilfe benötigt, wir sind Euch stets zu Diensten.« Sie verbeugt sich vor Erdschwer und verlässt im Kreis der ihren den Raum.
Die vielen Eindrücke der vergangenen Tage, das Licht im Saal, die Wärme des Holzfeuers und die fast greifbare Zuneigung, mit der Erdschwer sie betrachtet, verwirren Mirianda. Nie saß sie mit einem Fremden allein am Kamin. Nie war sie einem ihr Unbekannten so nah. Das Feuer knackt und wirft züngelnde Schatten an die Wand. Die leise Stimme des Königs bricht das Schweigen.
»Vor langer Zeit, als es in Wardistan noch Sonnenlicht gab, arbeiteten die Menschen hart, um dem Boden seine Früchte zu entlocken. Das Leben war schwer und mühevoll, und dennoch feierten wir Feste, freuten uns über Geburten und trauerten, wenn einer der unseren uns für immer verließ.« Erdschwer seufzt. »Als Halamor die Dunkelheit rief, war alles vorbei. Was du hier siehst, ist ein Abglanz unseres Lebens unter der Sonne. Sobald die Mingowen mir sagten, wen sie schlafend am dunklen See fanden, wollte ich dich auf der Stelle in den tiefsten Kerker werfen.« Erdschwer sieht ihr direkt in die Augen. Sie hält seinem Blick stand. »Doch die Mingowen erinnerten mich an die Prophezeiung von der strahlenden Jungfrau, die das Licht der Sonne in sich trägt und uns alle befreien wird.«
Mirianda schließt die Augen und lauscht den Worten des Königs. All das Leid und die Hoffnungslosigkeit, die Halamor über das Land brachte, lasten in diesem Augenblick auf ihren Schultern. »Was soll ich tun?«, flüstert sie.
»Dein Vater ist krank vor Sehnsucht nach dir. Sein Schmerz lässt Wardistan Tag für Tag dunkler werden. Finde einen Weg. Bring uns die Sonne zurück!« Schatten der Trauer vibrieren in Erdschwers Stimme.
Kummer presst Miriandas Brust zusammen. Sie schluchzt. »Ich verspreche es bei meinem Leben. Ich werde den Weg finden«. Tränen tropfen auf ihre Hände. Sie zittert. Erdschwer legt behutsam seine Arme um sie. So hocken sie lange und halten einander fest. Zwei beladene Seelen, keinen Ausweg wissend. Ihre Augen schließen sich vor Müdigkeit. »Du musst gehen«, flüstert er ihr zu.
»Kann ich nicht bei dir bleiben«, fragt Mirianda. Erdschwer schüttelt bedauernd den Kopf. »Die Nacht neigt sich dem Ende entgegen. Ein Erdenmensch, der vor Tagesanbruch den Weg an die Oberfläche nicht schafft, verwandelt sich in einen Mingowen, ein Wesen der Nacht. All unsere Hoffnung und meine Liebe sind mit dir. Mirianda, nur als Mensch kannst du uns retten!« Mit diesen Worten verabschiedet sich der König von ihr, doch sein sehnsuchtsvoller Blick sagt: »Bleib!«
Ohne Miriandas Antwort abzuwarten, verschwindet Erdschwer durch eine kaum wahrnehmbare Tür in der Wand. Etwas zupft an ihrem Arm. Die Moosige ist unbemerkt neben sie getreten. »Es ist Zeit!«, fordert sie Mirianda auf. Ergreift ihre Hand und führt sie auf denselben verschlungenen Wegen aus dem Schloss, auf denen sie es betreten hat. Schweigend laufen die beiden durch die vom Gold erleuchteten Gänge. Die Moosige summt eine sich immer wiederholende Melodie, von der Mirianda noch schläfriger wird. Auf einem Feld, unter einer alten Eiche, halten sie. Es bedarf keiner Aufforderung. Sie legt sich mit geschlossenen Augen in das wispernde Gras. Die Stimme der Moosigen klingt weit entfernt und doch nah genug, dass Mirianda ihre Worte versteht. »Dies ist der heilige Baum, das Herz Wardistans. Hier fanden wir vor langer Zeit König Erdschwer in den Armen seines Bruders König Windleicht. Beide sterbenskrank, von Halamors Fluch getroffen. Dies wäre ihr Grab geworden, hätten wir sie nicht voneinander getrennt. Der eine kann nur in den Tiefen der Erde, der andere nur in den Höhen der Lüfte überleben. Auf der Erde leben können sie nur kurze Zeit, einander festhaltend. Doch schnell schwinden auf diese Art ihre Lebensgeister. Finde König Windleicht! Füge zusammen, was Halamor getrennt!«
Wo? Die Frage wabert durch ihren müden Kopf.
Über der Dämmerung antwortet die sanfte Stimme. Jetzt aber schlaf! Leise summt die Moosige wieder die fremde Melodie, mit der sie sich langsam aus Miriandas Gedanken zurückzieht.
Am Morgen erwacht Mirianda unter dem ausladenden Dach der alten Eiche. Nach dem Besuch in König Erdschwers goldener Schattenwelt erscheint ihr das Dämmerlicht Wardistans dunkler als je zuvor.
Aus dem nahe gelegenen Wald sind Schritte zu hören. Äste knacken unter schweren Stiefeln. »Ein Licht« hört sie eine knurrige Stimme rufen. »Es bewegt sich!«
»Wenn das mal nicht unser Prinzesschen ist«, antwortet eine andere Männerstimme.
»Halamor wird es uns lohnen«, ruft ein Dritter.
»Gold, Vieh und Weiber«, grölt ein Vierter.
Mirianda wirft sich hastig Saragundes Umhang über. Das Leuchten verschwindet. Sie sucht mit den Augen ein Versteck. Das Gras ist zu niedrig, das wogende Weizenfeld zu viele Schritte entfernt. Sie wendet den Blick nach oben. Das Blätterdach der Eiche ragt weit in die Wolken hinein. Sie knotet ihre Röcke zusammen, sodass sie den Beinkleidern von Männern ähneln. Ihre Schuhe steckt sie in den Ausschnitt ihres Kleides. Jetzt kommen ihr die Spiele ihrer Kindertage zugute. Oft hatte sie sich auf den Bäumen im Garten vor den Rufen der Zofen versteckt. Eichhörnchenflink klettert sie empor. Mit einer Hand berührt sie schon die Wolken, da dringen die Stimmen der Männer zu ihr herauf. Mirianda hält inne. Wagt einen Blick nach unten.
Sie laufen suchend um den Baum herum. »Verfluchtes Weib« hört sie den mit der knurrigen Stimme murren. »Die Hexe hat sich in Luft aufgelöst!« Lautes Gekreisch übertönt das Geräusch der knackenden Äste unter ihren Füßen.
»Verdammtes Miestvieh« brüllt einer der Männer.
In diesem Augenblick durchbricht Mirianda die Grenze zwischen Erde und Himmel. Eingehüllt in den Wolkennebel, bemerkt sie eine Erschütterung des Baumes. Sie fürchtet, die Männer haben sie entdeckt und folgen ihr. Sie klammert sie sich an die dünner werdenden Äste. Der Wind zerrt an ihren Haaren, heftig und kühl. Die Furcht lässt Mirianda erlahmen. Zwei Meter über ihr ein kräftiger Ast. Mit letzter Kraft zieht sich nach oben. Angekommen kauert sie sich zusammen. Schlingt Arme und Beine um den Stamm des Baumes. Auf jedes Geräusch lauschend, sinkt sie allmählich in einen Schlummerzustand zwischen Wachen und Schlafen.
Im Traum hört sie leises Flügelschlagen und heiseres Krächzen. Über alle dem klingt das Lied der Moosigen. Mit ausgebreiteten Armen schwebt sie, einem Vogel gleich, durch die Lüfte. Immer höher und höher, bis sie erwacht. Mirianda öffnet die Augen, berauscht von diesem Traumflug und gestärkt von der Musik. Doch statt des rutschigen Asts steht sie festen Boden. Kühl und glatt belebt er ihre nackten Fußsohlen. Um sie herum ist es windstill. Wohin sie den Blick auch wendet, sie schaut in den Himmel, so strahlend blau, wie sie ihn nur von den Gemälden in Erdschwers Schloss und aus Saragundes Erinnerungen kennt. Weit unter ihr die geschlossene Wolkendecke. Sie hockt sich auf den Boden, tastet und klopft, staunt. Hoch über den Wolken steht sie in einem Raum aus Glas.
»Willkommen in meinem Palast, Mirianda, Tochter der Lichtgeborenen und des Dunklen!« Die silberhelle Stimme reißt sie aus ihren Gedanken. Sie wirbelt herum, springt auf. Ein Gesicht, umrahmt von hellen Locken, mit markanter Nase lächelt sie an. Ein Mann, so durchscheinend wie sein Palast aus Glas. Ein Blick in seine Augen, lapisblau, lässt sie alle eben noch drängenden Fragen vergessen. Eine nie gekannte Wärme durchströmt sie, auf ihrem Antlitz zeigt sich ein strahlendes Lächeln.
»Schön,