Marc Short

Auf dem Pfad der Götter


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Sie wird sein und unser Schicksal lenken, wird schaffen, was ich noch nicht vermochte, zu unser aller Gunsten. Die Weberin des Schicksals wird Vertrauen schaffen, dachte er. Das musste sein, denn der Junge war ihrer aller Schicksal und dies der Grund, warum er die Norne zu ihm schickte. Bei diesen Gedanken hob sein Herzschlag an und eine unsichtbare Kraft strömte in ihn.

      „Geh und hol den Jungen“, sagte Liftar. „Geh und überbring ihm meine Botschaft. Lass dich dabei nicht von seinem selbstsicheren, unerschrockenen Eindruck vernebeln. Er trägt eben dasselbe Blut wie ich.“ Den letzten Satz sprach er leise.

      Liftar sah der Schicksalsweberin nach, wie sie über das Meer Richtung Ufer schritt und wusste, was es bedeutete sie loszuschicken. Er wusste um ihre Kraft und als er sie mit den endlosen Beinen und dem im Mondlicht gelb leuchtendem Schopf über das Wasser gleiten sah – denn nicht anders konnte man es sagen – war er sich sicher: Sie würde es schaffen. Er lächelte. Ob Tibor bei ihrem Anblick standhaft bleiben würde?

      Und konnte man Gleiches von der Norne behaupten? Oder verfiel sie Tibor, denn auch er, das hatte Liftar vom ersten Moment an gespürt, besaß eine für Menschen ungewöhnliche Aura. Charisma nennt man es wohl. Davon würden sie auf ihrer anstehenden Reise mehr brauchen als Tibor jetzt ahnte. So, wie noch viele Dinge mehr, gepaart mit einer guten Portion Glück. Ansonsten war ihre Mission zur Erfolglosigkeit verdammt.

      „Mit einem Mann wie ihm, einem Freund wie mir und einer Schicksalhaften wie ihr, sollten wir die Schlacht beginnen können“, murmelte der Einherjer. „Und mit vielen anderen werden wir sie beenden“, fügte er wie in Trance an. Dabei war ihm klar, wie wichtig die Anderen noch werden würden und von welcher Bedeutung ihr Finden war. Wieder sah Liftar der goldenen Schicksalsweberin nach, deren Abbild immer kleiner wurde und dennoch strahlte wie eine zweite Sonne. Seine Überlegungen verschwanden bei diesem Anblick und er fragte sich, welchen Zweck die Schicksalsweberin verfolgte, dass sie sich ihm so zeigte. Denn normalerweise blieben Nornen für ihren Absender unsichtbar. Sie sind nur sichtbar für die, von denen sie gesehen werden wollen. Warum also gerade er? Wollte sie ihm zeigen, dass sie die Botschaft wirklich überbrachte und er ihr trauen konnte? Aber er hätte doch niemals an ihrer Loyalität gezweifelt! Nicht er.

      Wollte sie also vielleicht einfach, dass er ihre Schönheit wahrnahm – weil sie sich gerne zeigte und Sehnsucht wecken wollte?

      Sollte ihm bewusst werden, welch kostbaren Diamanten er hier aus den Tiefen gehoben hatte?

      Liftar schüttelte den Kopf. Keineswegs. Diese Wesen würden solche Gefühle niemals wecken wollen. Nornen erledigten ihre Aufgabe am liebsten still und ohne Wissen Zweiter und Dritter. Eines kam ihm dann doch in den Sinn, was sie zum Ausdruck bringen wollen könnte: Vielleicht wollte sie ihm bildlich mitteilen, was alles auf dem Spiel stand und noch einmal klar machen, was alles verloren ginge, wenn er versagte. Vermutlich, denn was wusste er schon über eine Norne, außer dem, was in der Vergangenheit über sie gesprochen worden war und sich in die Geschichtsbücher und Geschichten von heute übertragen hatte.

      Sie, die Schicksalsweberin Skuld, ging über das Meer wie über festen Grund. Ihre Gedanken waren das Rauschen der See, unendlich, tiefgründig und weitreichend. Sie kannte die Zukunft, und mit ihren Schwestern Urd, welche für die Vergangenheit stand und Verdandi, die für die Gegenwart stand, hatten sie das Gefüge der Alten Welt zusammengehalten, hatten im Brunnen unter dem Weltenbaum die Schicksale einzelner gesteuert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, dass alles zusammen war, wofür sie standen. Gemeinsam malten sie ein Bild, spannten bald einen Bogen und ergaben schließlich den Weg, der die Zukunft spiegelte. So wurde von den Nornen das Schicksal gesponnen. Einst, als auch die Väter und Mütter der Götterkinder noch unter den Lebenden waren und ihre alte Welt vollkommen gewesen war, vor Ragnarök, da war ihnen diese Gabe gewiss und von Bestand gewesen. Dann aber, als alles sein Ende fand, war auch das Stricken der Zukunft immer schwächer geworden. Sie, die Nornen wurden zu Wesen, die waren wie ein Mensch ohne Augen und die umherirrten wie wirre, geistig umnebelte Menschen in ihrer dunkelsten Nacht. Irgendwann fanden sie in den Tiefen der Meere einen Anker, und dieser half ihnen die Zeit bis heute zu überstehen. Denn wie ein Mensch so brauchten auch sie im Jetzt eine Aufgabe, um sich nicht zu verlieren. Sich und den Bezug zur Neuen Welt, die aus der alten entstanden war. Sie, Skuld, wusste davon, denn sie hatte gesehen, dass der Wikinger aus Walhall und dieser junge Mann der Schlüssel waren. Die Möglichkeit, ihre Gabe wiederzuerlangen. Zumindest zu einem großen Teil. Auf die Nornen würde wieder Verlass sein und ihr Dasein einen Sinn haben. Sie, die Weberinnen des Schicksals, würden wieder in der Unendlichkeit schweben können. Und dafür würde Skuld mit allen Kräften einstehen, die ihr zur Verfügung standen.

      Die Schicksalsweberin schritt immer weiter. Ohne Halt, ohne Rast aber mit einer Ruhe, als säße sie noch immer am Rad der Zeit.

      Dann war sie fast da. Steiniger Grund kitzelte ihre zarten Fußsohlen. Letzte Wellen umspülten ihre Knöchel und als auch diese verschwunden waren wie letzte Fesseln, da erstarb das Rauschen des Meeres. Stattdessen schwoll ein Flüstern an. Das elfenhafte Flüstern der Norne. Und es würde geistern durch die Stadt, geistern durch die Nacht und die Träume der Menschen, um bei ihm zu landen, um ihn zu finden. Ihn, jenen Einen, zu dem sie bereits persönlich auf dem Weg war. Um ihren Körper flirrte die Luft, bildete sich zum einen goldbraunen Funkenkleid. So konnte sie ihm gegenüber treten.

      Der junge Mann selbst führte sie zu ihm, er wusste es nur noch nicht. Das Flüstern hatte den Geist des Gesuchten erreicht und das Echo trug seinen Namen zu ihr: Tibor.

      Und so flüsterte sie seinen Namen, einen Namen, dem sie längst ein Schicksal gegeben hatte.

      Wusste Tibor, was ihn erwartete? Eine göttliche Aufgabe, denn letztlich ging es um die Zukunft. Nicht nur seine, sondern auch die vieler anderer. Und er würde über sie bestimmen – durch sein Tun oder Unterlassen, durch sein Handeln oder Nichthandeln. Durch seine Entscheidungen und Kommandos, so wie es ihm bestimmt war.

      Und dann war sie da, angezogen von seinem Geist, seiner Aura. Der Mann vom Schiff hatte nicht zu wenig versprochen. Ein verruchter Gedanke machte sich in der Norne breit, den sie nicht verscheuchen konnte: Wenn sie unter ihrem Flimmerkleid nicht schon nackt wäre, für ihn hätte sie sich nackt gemacht. Gut, dass sie die Macht der Weberin verloren hatte, denn sonst hätte sich dieser Gedanke eingepflanzt und wäre ausgetrieben wie ein dorniger Rosenbusch aus einem Samen. Und sein Schicksal wäre ein ganz anderes geworden ....

      Dunkelheit umhüllte Tibor. Plötzlich aber irrlichterte die Umgebung in den Farben und Formen eines Feuerwerks. Bald fanden Farben und Formen zusammen und ergaben ein Bild. Es musste das Bild eines Traumes sein. Was sonst, wenn er so etwas sah? Etwas oder jemand wie sie. „Wer bist du?“ Er stellte die Frage und sie stand im Raum ohne Antwort. Dieses feminine Wesen, sie sah ihn nur an, aus Augen die blaugrün leuchteten wie der Ozean und einem Gesicht, dessen Haut in zartem Weiß, so rein und zart schien wie eine Schneeflocke. Ihr Haar strahlte goldgelb wie der Mond. Ob sie der Himmel geschickt hat?, fragte er sich. Oder die Sterne selbst?

      Nein, eher schien es ihm, als wäre sie dem Ozean entstiegen, ja als wäre sie das oder ein Kind des Ozeans. Aber was dachte er da?

      Plötzlich sah er wie sich Flüssigkeit in ihren großen, weiten Augen sammelte und ihr Blick glasig wurde. Im nächsten Augenblick liefen Tränen ihre Wange herab. Tibors Magen hüpfte und krampfte sich zusammen, er konnte diesen Anblick nicht ertragen. „Warum weinst du?“, hauchte er.

      Als Antwort stieg ihm der salzige Duft rauer See in die Nase, vermischt mit Tang, Sand und Muscheln. Er fühlte sich wie auf den Grund der See gezogen. Wind schien durch sein Haar zu fegen und ihn fror. Er kreuzte die Arme und rieb sich über die Schultern, wartete noch immer auf eine Antwort. Und dann endlich vernahm er sie. Ihre Stimme war wie der Schall einer Glocke und ebenso der Hall. Tibor wusste endgültig, dass er in einem Traum gefangen war.

      „Ich sehe, was du nicht sehen kannst“, sagte sie. „Und jetzt, da ich vor dir stehe, sehe ich etwas, das selbst ich bis zu diesem Moment nicht wissen und erfassen konnte.“

      „Was, was siehst du?“, fragte Tibor.

      „Das darf ich dir nicht sagen. Es … tut mir leid.“ Sie senkte den Blick,