Marc Short

Auf dem Pfad der Götter


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er war gekommen um sie zu verschlingen – sie beide!

      „Wer bist du?“, wiederholte Tibor die Frage vom Anfang. Und endlich antwortete sie ihm, jedoch anders als er es erwartet oder gedacht hätte: „Ich bin dein Schicksal, mein Freund.“ Und dann sagte sie in den Sturm hinein: „Du musst und wirst eine Reise antreten. Ein Mann wird wieder kommen, ihm folge, denn er wird dein Gefährte und Meister sein. Vertraue ihm, folge ihm und beschütze ihn. Denn auch er wird deine Hilfe einmal für sich benötigen, er weiß es nur noch nicht.“ Die letzten Worte waren leise gesprochen, ganz als hätte die Unbekannte sie eben erst erfahren.

      Tibor drohte sich im Sturm zu verlieren, er selbst schien sich nun ebenfalls zu drehen. Ihm wurde schlecht. Der einzige Punkt im Chaos, der blieb und ihm half, noch bei Verstand zu bleiben, war sie. Dieses feminine Überwesen. „Du bist so schön“, sagte er, ohne auf ihre Worte einzugehen und um sich abzulenken. „Wirst du bei mir bleiben? Wirst du mich auf meiner Reise begleiten?“

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Aber ich werde dich wieder sehen?“, hakte Tibor nach und spürte, wie sein Herz schneller schlug.

      Wasser schwamm in ihren Augen. War sie traurig? Er sagte: „Was ist mit dir? Was wird geschehen? Sag es mir!“ Tibor trat an sie heran, den Sturm ignorierend. Er schüttelte sie. Und da traf es ihn mit der Wucht eines Hammers: Kälte erfasste ihn, eisige Kälte und sein Atem gefror. Als er stocksteif stand und zu keiner Regung mehr fähig war, wich sie zurück. „Es … tut mir leid. Aber es ist deine Bestimmung. Dein Schicksal ist unausweichlich. Füge dich!“

      „Und was ist mit dem Schicksal meiner Mutter?“, ereiferte er sich. „Hast du oder eine Deinesgleichen es gewusst? Gar gesehen? Wenn ja, warum habt ihr nichts getan, um sie zu schützen? Das ist nicht fair!“

      Ihr Abbild entfernte sich. Bald war sie nur noch ein Punkt so weit entfernt von ihm wie ein Stern. „Rede!“

      Das braungoldene Kleid leuchtete in einem Funkenregen auf. Dann verblasst die überirdische Frau, als wäre sie nie gewesen. Als hätte sie niemals Bestand gehabt. Sein Herz beruhigte sich nur langsam. Er spürte, dass er völlig aufgelöst war. Nach mehrmaligem Durchatmen registrierte er im Nachgang, dass die letzten Worte und Sätze des Gespräches nicht gesprochen worden waren. Sie waren gedacht. Mit einer Stimme, so kraftvoll, dass er geglaubt hatte wirklich zu sprechen. Sie musste ihn gehört haben, das stand für ihn fest. Tibor sah sich um. Er fühlte sich wie zu einem Treffen eingeladen, bei dem letztlich Vorspeise und Hauptgang übersprungen worden waren und das Dessert fragwürdig ausfiel. Plötzlich fragte er sich nicht mehr nur, wo er war, sondern auch, wer er war.

      Die Erschöpfung machte sich schubartig bemerkbar. Erst sträubte er sich dagegen, als die Schwärze wie eine Welle heranrollte und sich kreiselhaft um ihn legte. Dann aber hieß er das Vergessen Willkommen und ließ sich fallen. Sein Bewusstsein ging von der Traumphase in die Schlafphase über, in der sich Tibor im Bett wälzte, als würde er einen Albtraum haben. Vermutlich beginnt er, wenn ich erwache, war ein Gedanke zwischen den Phasen, zwischen Traum und Realität.

      Tibor erwachte früh am Morgen. Die Sonne war hinter dichtem, weißem Nebel verborgen. Ein trister Tag würde das werden, vermutete Tibor. Als er sich streckte, taten ihm die Knochen weh und ihm kam sein Traum von dieser Nacht in den Sinn. Es fühlte sich beinahe an, als wäre er real gewesen. „Dann wird jetzt der Albtraum beginnen“ murmelte er.

      „Wenn du das so siehst, lässt sich das nicht ändern“, durchdrang eine tiefe, bassartige Stimme den Raum. Die Stimme mit dem Donnerhall ließ seinen Oberkörper in die Höhe schnellen. Es knackte vernehmlich, so, dass er sich den Rücken halten musste. Er kannte diese Stimme und sie war erst wenige Stunden alt. „Du!“ Es war mehr eine Erkenntnis denn eine Frage. „Vermutlich bist du nicht einfach so gekommen.“ Tibor reckte die Hände in die Luft, dann stand er auf und sah dem anderen ins Gesicht. Er musste dazu den Kopf heben. Tibor erkannte das lange, graue Haar, dass ihm bereits gestern aufgefallen war. Und da waren diese durchdringenden Augen, die mehr als nur ein Jahrhundert gesehen zu haben schienen und die jetzt zu ihm herab blickten. Die hünenhafte Gestalt passte kaum durch den Türrahmen. Wie hatte Liftar es nur so leise hier hinein geschafft? Und wie konnte er überhaupt das Öffnen der Türe überhören? „Solche Dinge“, setzte Tibor an.

      „-sind dir bisher noch nicht untergekommen, wie?“, vollendete Liftar.

      War da ein Grinsen auf den Lippen des Eindringlings. „Gibt es den Begriff Privatsphäre in deinem Sprachgebrauch nicht?“

      „Was für ein Ding?“, fragte Liftar. „Ich kenne so etwas nicht. Und nun komm, wir haben keine Zeit mehr! Vor allem nicht für Diskussionen um solche Banalitäten.“

      „Wie kann ich wissen, dass ich dir vertrauen kann?“, fragte Tibor.

      Eine Pause. Wind kam auf, wie bei einem Durchzug. Mit einem Mal stand die Tür offen.

      „Weil ich dein Schicksal bin!“ Der Satz ließ ihn versteinern.

      „Du … kennst sie! Das Wesen aus meinem Traum.“, stellte Tibor fest. „Dann muss sie wirklich existieren.“

      Der Gefragte gab keine Antwort darauf. Tibor vermutete, dass er und dieses feminine Überwesen sich kannten. Vielleicht hatte er sie auch geschickt und kannte damit die Botschaft. Oder er hatte alles nur inszeniert. Dass sie die Entführerin seiner Mutter war, glaubte er nicht.

      „Komm jetzt. Es wird Zeit“, drängte Liftar Masir.

      Hatte er eine Wahl? Wenn du deine Mutter wieder sehen willst, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, so folge ihm. Nur er kann dir helfen. Oder wie willst du hier und alleine etwas ausrichten?

      Tibor ballte die Hände zu Fäusten. „Gut“, sagte er und fügte in Gedanken hinzu: Aber vertrauen werde ich dir noch lange nicht. Das will gut erarbeitet werden. Ob das je geschehen konnte, darauf wusste allein die Zeit eine Antwort.

      Tibor folgte dem riesigem Mann, der sich letzte Nacht als Liftar Masir vorgestellt hatte, hinaus. Folgte ihm durch dichten Nebel durch die Straßen und über die Ebene zur Küste. Folgte ihm über den Sand, der sich ewig dahinzog. „Ebbe“, stellte Tibor fest. „Wir haben Ebbe.“

      „Und bei Flut legen wir ab“, antwortete Liftar.

      Ohne weitere Worte gingen sie weiter, bis das Wasser seine Füße berührte. Frostig und unbarmherzig blies der Wind. „Kämpfe“, sagte die Stimme seines Begleiters. „Wir dürfen jetzt nicht anhalten. Es gibt ohnehin kein Zurück.“

      Tibor wollte erst gar nicht wissen, wie es war, das Wasser am ganzen Körper zu spüren. Als er wieder aufsah, um eine Antwort zu geben, konnte er die Gestalt des Anderen kaum mehr erkennen. Wenn er Liftar Masir nicht verlieren wollte, musste er sich sputen.

      Tibor sah auf seine Stiefel, die durchtränkt und aufgequollen von der Nässe waren. Kurz entschlossen zog er das Schuhwerk und die Socken aus. Sand wirbelte auf, als er kurz darauf die Düne entlang rannte. Und dann kam das Wasser doch noch - eisigkalt. Und er ging weiter. Bis seine Füße darin versanken. Weiter. Bis dass Nass an die Waden reichte. Weiter. Bis es an die Knie reichte. Dann half alles Zögern nichts mehr: Er warf sich in die Fluten und fing mit den Armen zu kraulen an. Und er kraulte, als ging es um sein Leben, nur um den Vordermann nicht aus den Augen zu verlieren und an ihm dran zu bleiben, wenn auch der Abstand immer weiter wuchs. Als er sich am Rande der Erschöpfung eine Atempause gönnte und den Kopf hob, wollte er seinen Augen nicht trauen. Der Drachenkopf mit dem geöffneten Rachen und den stechenden Augen war unverwechselbar.

      „Das, das hab ich schon zweimal gesehen!“, entfuhr es Tibor. Damals nämlich, als er mit seinem Vater auf dem Kutter unterwegs gewesen war, als sie im Dunst des Nebels daran vorbei geschaukelt waren. Und zum zweiten Mal erst vor wenigen Tagen. Diesmal, das wusste er, gab es kein Entkommen. Das war so sicher wie die nächste Welle. Tibor setzte seinen Kraulstil wieder fort. Entschlossen schwamm er dem Ungeheuer aus Holz entgegen, denn das Ungetüm war sein Ziel geworden. Und es war ein großes Ziel, ein riesiges, wie er mit jedem weiteren Schwimmzug immer mehr begriff. Eines, das ihm den verbliebenen Atem endgültig raubte. Wollen wir einmal