sah mehrere Mitglieder der Mannschaft in den wogenden Massen um ihr Leben zappeln. Die Frontseite hob sich immer mehr nach oben, würde bald wie eine Speerspitze zu den Sternen zeigen. Riesige Balken brachen, das Holz splitterte und Teile davon schlugen links und rechts von ihr ins Nass. In all diesem Chaos leuchtete etwas, leuchtete jemand wie ein herabfallender Stern. Die Meerfrau konnte solche Wesen erspüren. Doch wie die Anderen würde auch er nicht überleben. Amphitrite traf in diesem Moment eine Entscheidung.
Mit entschlossenen Flossenschlägen glitt sie durch die See auf den gefallenen Stern zu. Es handelte sich um einen jungen Mann mit mandelbraunen Augen. Braun wie die Erde, ruhig wie das Land. Darin spiegelte sich Traurigkeit, gemischt mit Erkenntnis. Die Meerfrau sprang jetzt wie ein Delfin über das Wasser. Kurz vor ihm stoppte sie und drückte mit den Nägeln ihrer rechten Flossenhand auf seine Stirn. Der Mann sagte nichts. Blieb still, ruhig wie die Erde. Nur sein schwerer Atem war zu hören. Wie das Brodeln eines Schwefelvulkans. Amphitrite zögerte. Sie roch das Blut, das aus mehreren Wunden seines Körpers kam und schmeckte es mit den Poren ihrer Schuppenhaut. Nur kurz schloss sie die Augen, genoss die eigene Marke des Mannes. Es geht um mehr als das Schicksal eines Einzigen, dachte die Meerfrau. Letztlich ging es um ihr Eigenes, und damit um ihre Zukunft. Ihre Flossenhand umschloss den Kopf des Ertrinkenden, umfasste ihn ganz fest. Sie sah in seine Augen und näherte ihre Lippen, bis sie die kalte Haut der seinen fühlte, den Geschmack von Honig und Wald schmeckte. Doch noch bevor sie den Kuss in all ihrer Form fühlen und ausfüllen konnte, zog sie sich zurück und war fort von ihm.
Mit einer Geschwindigkeit, die sie selbst nicht erahnen konnte, machte sie sich auf und davon. Wieder einmal. Doch diesmal hatte sie ein klares Ziel vor Augen. Eines, das ihr entsprach. Und sie tat, was sie noch nie getan hatte: Sie bat eine ihrer Schwestern um Hilfe.
Zurück auf dem Grund der Tiefe traf sie Poseidon kurz vor seinem Herrschersitz. Er lächelte siegessicher. »Unser Palast wird jetzt durch das Portal ziehen. Egal was geschah, du wirst ihn niemals wieder lebend sehen.«
Amphitrite schwamm auf den Meeresgott zu, umtanzte ihn – umwarb ihn und hoffte tief in ihrem Inneren – mit dem Herzen, dass Poseidon nicht weiter darüber nachdachte, was er gesehen hatte. Wenigstens für wenige Stunden.
Denn was niemand wissen konnte: Der Kuss war ein Kuss der Unsterblichkeit gewesen. Er brachte diesem Menschen ewiges Leben. Und das gab der Meerfrau Kraft. Denn jetzt hatte sie alle Zeit der Welt, um ihr Schicksal eines fernen Tages zu ändern. Und während ihre Lippen sich kräuselten, und die von Poseidon im nächsten Wimpernschlag umschlangen, dachte Amphitrite: Viel Glück, gefallener Stern. Ich hoffe, du steigst wieder auf. Und dass dir die Fähigkeit zu erkennen und zu verstehen weiter erhalten bleibt. Dann wirst du eines Tages verstehen, wer dich noch immer liebt, obwohl sie nicht bei dir sein kann. Außer es führt eines Tages ein Weg durch das Portal, zurück zu dir.
3. Geheime Zauber
Amphitrite lag auf einem Stein und starrte wie gebannt auf die gegenüberliegende Seite. Dort ruhte ein in die Wand eingefasster Schrank, dessen Frontseite aus Kristallglas bestand. Poseidon schwamm davor auf und ab, wobei seine Finger sanft über die Scheibe strichen, so wie sie manchmal auch über ihre Haut fuhren.
»All die Schiffe«, sagte er, »die durch mich sanken, deren Mannschaften ertranken, deren Körper du und andere holten, sind hier.«
Die Meerfrau spürte wie ihre innere Unruhe wuchs, ihre Fußflosse wand sich und schillernde Blasen entstanden. Mit einem Ruck wand sie sich in eine sitzende Position.
»Was wir nicht bergen, holt sich der Ozean, denn er ist dunkel und gierig und er ist weit. Kraken in der Tiefe, Haie aus dem Nichts und Seeschlangen im Schatten der Korallen sind nur einige, die sich um Schiffe und Mannschaften kümmern. - Ich bin froh, dass die STURMNACHT unsere Sammlung ergänzt, eine Sammlung dir zu Ehren, meine Liebe!«
»Niemand von der Mannschaft konnten gerettet werden, der Ozean hat sie alle verschlungen und du das Schiff als Trophäe genommen. Warum nur erinnerst du mich immer wieder daran?«
»Damit du nicht vergisst, was passiert, wenn du meinen Zorn weckst. Zu oft schon hast du ihn geweckt, sieh zu, dass du nicht zu weit geht.«
»Du vergisst, dass das Gemüt einer Meerfrau wie die Gezeiten ist, mal lau wie an einem Sommertag, mal gebrochen und ungebremst wie im Winter!«
»Du bist keine Sirene, du bist…« Wie immer stockte er in diesem Satz.
Liebevoller, wolltest du wohl sagen, dachte sie und erinnerte sich wieder an den gewaltigen Sturm, ihren Aufbruch zur Oberfläche und ihren Kuss. Gefallener Stern, dachte sie, wo magst du wohl gerade sein? Hast du die Insel schon erreicht? Geht es dir gut, auf dem Eiland meiner … Schwester? Das letzte Wort dachte sie mit Unbehagen, denn Skye, die früher immer nur Skylla genannt wurde, gehörte nicht wirklich zu ihrem Blut. Sie wurden lediglich durch einen Schwur zu Schwestern, einen Liebesschwur. Allein dieser konnte den Zorn der Frau bändigen und sie so auch von ihrer schweren Last befreien.
»Einmal werde ich dir jemand schicken, einmal wirst du mir helfen, einmal wirst du mir dann wie eine echte Schwester sein«, hatte sie ihr damals eröffnet.
Skylla hatte gelacht, laut und unnatürlich, ihre Schuppenhaut hatte sich gekräuselt. Mit ihrem doppelten Fischschwanz, der dem saugenden Rüssel eines Kraken glich, hatte die Frau sie umschlungen. »Ich habe Meerfrauenblut in mir, aber mehr jenes der Sirenen als Eures! Und ich liebe und begehre den Mann, der Euch Königin der Meere nennt! Warum also sollte ich mich darauf einlassen?«
Amphitrite hatte sich aus ihrer Umklammerung gelöst, die von einem Brennen begleitet wurde. »Soll ich den König rufen? Wohl kaum! Doch wenn Ihr warten könnt und wenn Ihr auf den Schwur eingeht, so kommt der Tag, an dem ich gehe und Ihr meinen Platz einnehmen könnt.«
»Und du lügst mich auch nicht an?«
Amphitrite stieß eine pfeifende Lautfolge aus, auf dessen letzten Ton ein Wellenreiter herankam. Der Delfin trug einen aquamarinblau funkelnden Stein, der in ein metallenes Quadrat eingefasst war und an einer breiten Silberkette hing mit sich, ein Medaillon, dessen Stein zerbrochen war, als Circe den bösen Zauber über Skylla gebracht hatte und der daraufhin von den Tiefen des Ozeans verschlungen worden war. »Sicher wisst Ihr, welches das ist? Die Macht des Dreizacks hat es geeint, die Kraft ist noch immer darin und sie wird auf Euch übergehen, solange der Stein nicht mehr gespalten wird. Eine Bedingung gibt es allerdings: Ihr müsst Euch an Land begeben und auch dort verweilen, denn allein in Verbindung von Sand, Erde und Luft kann seine Wirkung entfaltet werden. Regen und Sturm bleibt es standhaft, solange ihr es wieder tragt.«
Lange hatten sie daraufhin geschwiegen, bis Skylla begonnen hatte einen Wassertanz um sie aufzuführen. Mit jeder Figur hatte sie sich dabei mehr in eine Sirene verwandelt, ein tötendes Biest mit den feuerroten Augen der Unterwelt. »Einmal werde ich dir helfen, einmal werde ich dir wie eine Schwester sein, einmal werde ich Königin sein«, rief die Frau, die sowohl an Land als auch im Meer zuhause war.
»Das war nicht ganz, was ich sagte«, erwiderte Amphitrite und verschränkte die Arme vor ihrer nackten Brust. Hier im Meer, vor ihresgleichen, trug sie lediglich ein Flossenkleid, der Oberkörper aber war frei. Allein Fischschwärme, Muscheln und Tang verhüllten ein wenig die von Männern so begehrten Formen der Weiblichkeit. Während Skylla ein eher üppiges Décolleté vorzuweisen hatte, war das von Amphitrite eher rasch von einem Schwarm Clownfisch verdeckt. Doch Poseidon schien das zu gefallen. »Du bist geformt wie die Stromlinien des Ozeans, weich, zart und eins mit der See, wärst du eine Koralle, so wärst du die süßeste und strahlendste die es hier zu ernten gibt!«, schwärmte er oftmals.
Skylla hatte sich wieder zu ihr begeben, sich auf ihren Schoß gesetzt. »Mein Blut, siehst du - dein Blut, siehst du«, mit ihren Fingern hatte sie ihr eine Schuppe am Becken gerissen. »Blut besiegelten unseren Schwur. Es wird mir eine Freude sein und ich bin gespannt, was du mir schickst!«
»Einen gefallenen Stern. Du wirst ihn erkennen, wenn er vor dir steht. Behandle ihn dann gut, hörst du?«
»Solange, wie du dein Versprechen