»Ich werde dir Fisch an Land schicken«, sagte die Meerfrau. »Fisch, den du nicht mehr erreichen wirst.«
Und sie dachte bei sich: So sorge ich für Frieden unter dem Meer, so wird meinem Stern die Irrfahrt durch das Meer ermöglicht und so weiß ich immer, wo Skylla ist.
Jetzt fragte sie sich, was passieren würde, wenn der gefallene Stern ihre letzte Botschaft an Skylla bleiben würde. Denn wie sollte sie Fischspeisen entsenden, wo sie doch durch das Portal ins Jenseitsmeer übergegangen waren? Sie würde erneut einen Boten finden müssen, einen der ihr treuer ergeben war als dem Herr der Meere selbst, zumindest in gewisser Weise. »Ich muss unseren Sohn Triton finden und erreichen, nur er kann mir jetzt noch helfen«, murmelte sie. Doch wo und wie sollte sie den verschollenen Sohn finden? Neben ihr gab einer der Wellenreiter eine mitfühlende Tonfolge von sich. Es war der Ältestes, jener der treu zu Poseidon stand und auch sie seit Ewigkeiten kannte: Delphur. »Du würdest alles für ihn tun, nicht wahr?«
Wieder antwortete er mit einer Tonfolge und hob dabei seinen Kopf ähnlich einem Nicken.
»Wenn du mir hilfst, hilfst du in gewisser Weise auch deinem Herrn. Ich möchte meinen König nicht unglücklich machen, verstehst du, aber ich muss meinem Herzen folgen.« Sie gab Delphur einen Kuss oberhalb des Schnabels. »Du kennst mich und ihn, und du kennst unseren ersten Sohn. Finde ihn!«
»Was schickt sie mir? - Was für ein schuppenloser Fisch ist das? Sollte tatsächlich die Zeit gekommen sein und ich nun erkennen?«
Wer sprach dort solche unverständliche Silben und Sätze? Nicolas Brighton wollte sich aufrichten, doch er konnte nicht. Prustend spuckte er Salzwasser aus, während sein Hinterkopf ein weiteres Mal auf den schlammigen Boden klatschte. Seitlich spürte er die Arme und versuchte sie zu heben, um sich Sand und Dreck aus den Augen zu wischen. Auch dieser Versuch ging daneben.
»Töten? Leben lassen?«, zische die weibliche Stimme, die er schon zuvor gehört hatte.
Er öffnete seine Lider, blinzelte, da das Sonnenlicht in seinen Augen brannte. Tränen quollen heraus, doch er wollte nicht mehr wegsehen. Die Frau, die sich über ihn beugte, hielt ein Messer in der rechten Hand und war bereit, damit zuzustechen; mit der linken befühlte sie seinen Körper. Ihr Gesicht war gezeichnet von Zorn und Wut. Bitterkeit schwappte wie eine Suppe zu ihm herüber. Nein, ihr würde er sicher nicht seinen wahren Namen nennen. Aber was sollte sie schon mit seinem Spitznamen anfangen können? »Blue-boy«, krächzte er. »Mein Name ist Blueboy.«
Die Frau, die über ihn gebeugt stand lachte. »Und meiner Skye, Junge aus dem Meer. Bist du vom Schiff gefallen? Wohin warst du unterwegs?« Ein lauernder Unterton lag in ihren Worten.
»Ich… ich weiß nicht mehr.«, murmelte er.
Ein Klatschen folgte, daraufhin fing seine Wange zu brennen an. »Du hast mich geschlagen!«, rief er und spürte, wie sich sein Blickfeld verfinsterte. Er drohte wieder das Bewusstsein zu verlieren.
»Und du hast die Wahrheit verschwiegen.«
Wieder spürte er trommelnde Schläge auf seinem Körper - leichter diesmal. Doch er hatte erfahren, wozu sie in der Lage war, er musste vorsichtig sein bei dieser Frau. Dieser Tag steht unter keinem guten Stern, dachte er und da fiel ihm wieder ein, wie ihn die Meerfrau genannt hatte. »Gefallener Stern…«, murmelte er.
»Was? Was hast du gesagt?«
Nico schluckte. Wie konnte man nur so unvorsichtig sein und auch noch laut aussprechen, was man dachte? Endlich erweiterte sich sein Blickfeld wieder, die bunten Punkte vereinten sich wieder zu dem Bild von ihr, das er kannte. Nur, dass die runden Augen der Frau jetzt dicht vor seiner Nase waren, so nah, dass er das funkelnde Rot hinter dem tiefen Blau der Iris erkennen konnte. Ein wenig erinnerten ihn ihre Augen an die der Meerfrau, aber es gab im ersten Moment zu vieles, was dagegen sprach ihr zu vertrauen. Erst jetzt fiel ihm das Schmuckstück auf, dass den Kopf der Frau zierte wie ein Haarkranz: Ein breites, silbernes Band zog sich unter ihren Haaren hindurch über die Haut und lief über der Nase in einer Spitze aus, in der ein geheimnisvoller Stein leuchtete. Das Kleinod erinnerte ihn an die hohen Priesterinnen aus dem Osten, die ein solches bei ihren Zeremonien trugen. Aber wir sind hier weit entfernt von Ägypten, dachte er, sehr weit.
»Wiederhole deine Worte und folge mir!« Die Stimme holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Der Klang der Worte war so zwingend, dass ihm keine Wahl blieb, außerdem wollte er nicht noch einmal geschlagen werden. Also schleifte er sich hinter ihr er und sagte: »Gefallener Stern.«
Die Frau schüttelte ihren Kopf. »Wie kann man solch eine Wahl treffen? Abgesehen von den tiefbraunen Augen ist nichts hübsch an dir! Aber deine Augen, sie würde ich dir gerne heraustrennen.«
Sein Herz fühlte sich an, als würde man einen Knoten darum binden und diesen wie ein Schuhband festziehen.
Sie gingen über eine Steinküste tiefer ins Landesinnere. Palmen und Farne, Gräser und Sand formten dieses Stück Land und gaben ihm dem Anschein einer Insel in der Südsee. Die Frau führte ihn zu einem Platz mit einer aus Holz und Schilfgras geflochtenen Matte und stieß ihn an dieser Stelle zu Boden. »Schlaf nun, die Sonne ist schon fast untergegangen.« Wieder traf ihn ihre Hand und er konnte nichts dagegen tun, als ihn die Schwärze zu sich holte.
Ein Feuer brannte, als Nicolas Brighton erwachte. »Du solltest etwas trinken. Magst du auch etwas zu essen?« Die Frau saß in einiger Entfernung. Ein weißes Pferd war bei ihr, dessen Zunge unablässig über ihr Gesicht leckte. Das Schnauben des Tieres war nicht zu überhören und erinnerte ihn an seine Kindheit. Wie lange hatte er keine Pferde mehr gesehen, wie lange war er nicht mehr geritten?
»Wo sind wir hier? Wie weit ist der Norden entfernt?«, fragte er, denn ihm fiel wieder ein, dass er mit der STURMNACHT unter Kapitän Robbys Kommando zum Treffpunkt Nord unterwegs gewesen war. In Richtung seiner Heimat.
Die Frau lachte laut auf. »Süden, wir befinden uns hier im herrlichsten Süden. Auf einer Insel, umgeben vom Meer, mit wenig Festland. Und doch ist dies ein Ort, den kaum einer sich wünscht, denn hier wüten Stürme, hier sind die Wellen mehr als tückisch und die Strömung ist gnadenlos. Hier versammeln sich Schiffe am Grund der See, wie Tote auf einem Friedhof.«
»Aber es gibt Festland!«, rief Nico, denn er wollte daran glauben und nach dieser Eröffnung auch so schnell wie möglich dorthin und weg von dieser Insel, die sich an einem solch gefahrenvollen Ort befand.
»Wenn sich eine weitere Insel aus dem Meer erheben würde, dann gäbe es wohl einen Übergang dorthin«, sagte die Frau trocken.
»Ich verstehe nicht.«
»Ich fürchte, du verstehst vieles nicht, mein Junge. Und das ist besser so. Was willst du überhaupt im kalten Norden? Hier ist das Paradies, nur hier.« Wieder lachte sie, doch es klang eher wie ein Lachen, um sich selbst etwas vorzumachen.
»Ich…« Was sollte er ihr erzählen? Wovon sprechen?
»Ich weiß wirklich nicht, was sie an dir findet. Hier - iss das!«
Das Etwas, was sie ihm zuwarf, entpuppte sich als breiige Masse, eingewickelt in ein Feigenblatt. Als er das Knurren seines Magens vernahm, verzichtete er auf weitere Fragen. Und als er hineinbiss, schmeckte es sogar, irgendwie auch köstlicher als jemals ein Essen zuvor und viel besser als dieser Fraß auf dem Schiff! »Kann ich noch einen Wickel haben?«
»Wickel?«, fragte Skye, aber warf ihm eine Weitere dieser Feigentaschen zu.
»Bei uns wurden Bohnen mit gebratenem Schinken umwickelt - daher Wickel. Wäre Speckmantel besser gewesen?«
Skye schüttelte den Kopf. »Du bist seltsam. Und dein Körper ist es auch.« Sie war mit einem brennenden Ast bei ihm, der als provisorische Fackel diente. Als Nico nichts sagte, erklärte Skye. »Deine Wunden Blueboy, sie sind rasch verheilt, während du geschlafen hast; und es blieben nicht einmal Narben zurück. Sag mir, wie hast du das gemacht? Woher bist du?« Mit dem letzten Satz kam sie so nahe, dass er ihren Atem riechen konnte - eine Mischung aus Hund und vor allem Fisch.
»Die Küsten