Emile Zola

Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur


Скачать книгу

von dem er sich nicht weggerührt hatte. Sie bot ihm von neuem ihre Hilfe an, aber er lehnte wieder ab mit noch starrerem Stolz als vorher. Er stand sogar auf, hielt sich gerade, um zu beweisen, daß er munter und guter Dinge war. Und als sie den Kopf wandte, steckte er die Möhre in den Mund. Aber er mußte sie einen Augenblick still halten, trotz des schrecklichen Verlangens, mit den Zähnen zuzubeißen; die Bäuerin blickte ihm wieder ins Gesicht und stellte ihm mit der Neugierde einer biederen Frau Fragen. Um nicht zu sprechen, antwortete er mit Kopfbewegungen. Dann aß er vorsichtig und langsam die Möhre.

      Die Gemüsebäuerin schickte sich entschieden an aufzubrechen, als dicht neben ihr eine laute Stimme sagte:

      »Guten Morgen, Madame François.«

      Es war ein dürrer, bärtiger Bursche mit groben Knochen, einem mächtigen Kopf, feiner Nase und kleinen hellen Augen. Er trug einen schwarzen, fuchsig gewordenen Filzhut, der seine Form verloren hatte, und war tief in einen riesigen Überzieher eingeknöpft, der einst zart kastanienbraun gewesen war und den der Regen in langen breiten grünlichen Streifen verfärbt hatte. Ein wenig gebeugt und von dem üblichen Schauer nervöser Unruhe geschüttelt, blieb er wie festgewurzelt in seinen groben Schnürschuhen stehen, und seine zu kurzen Hosen ließen seine blauen Strümpfe sehen.

      »Guten Morgen, Herr Claude«, antwortete freundlich die Gemüsebäuerin. »Sie wissen, ich habe Sie am Montag erwartet; und weil Sie nicht gekommen sind, habe ich Ihr Bild in Verwahrung genommen und in meiner Stube an einem Nagel aufgehängt.«

      »Sie sind zu gütig, Madame François; dieser Tage werde ich meine Studie beendigen kommen ... Am Montag konnte ich nicht ... Hat Ihr großer Pflaumenbaum noch alle seine Blätter?«

      »Gewiß.«

      »Ich will ihn nämlich in eine Ecke des Bildes setzen. Links vom Hühnerstall wird er sich gut machen. Die ganze Woche habe ich darüber nachgedacht ... Ah! Das schöne Gemüse heute morgen! Ich bin früh heruntergekommen, weil ich ahnte, daß es über diesen Bergen von Kohl einen herrlichen Sonnenaufgang geben wird.« Er zeigte mit einer Handbewegung auf die ganze Länge des Pflasters.

      Die Gemüsebäuerin sagte noch:

      »Nun also, ich gehe. Lebt wohl ... Auf bald, Herr Claude!« Und als sie aufbrach, stellte sie Florent dem jungen Maler vor: »Das hier ist ein Herr, der von weither zurückkommt, wie es scheint, und der sich in Ihrem lumpigen Paris nicht mehr zurechtfindet. Vielleicht können Sie ihm eine richtige Auskunft geben.« Endlich ging sie, glücklich, die beiden Männer zusammen zurückzulassen.

      Claude betrachtete Florent mit Anteilnahme; diese lange, dünne und schwankende Gestalt kam ihm irgendwie eigentümlich vor. Die Vorstellung durch Frau François genügte; und mit der Unbefangenheit eines an zufällige Begegnungen jeder Art gewöhnten Straßenbummlers meinte er gelassen zu ihm:

      »Ich werde Sie begleiten. Wohin gehen Sie?«

      Florent blieb gehemmt. Er war wenig mitteilsam; aber seit seiner Ankunft hatte er eine Frage auf den Lippen. Endlich wagte er sich damit hervor; er fragte und hatte dabei Angst vor einer verdrießlichen Antwort:

      »Ist die Rue Pirouette noch vorhanden?«

      »Natürlich«, sagte der Maler. »Ein höchst reizvoller Winkel des alten Paris, diese Straße! Sie dreht sich wie eine Tänzerin, und die Häuser da haben Bäuche schwangerer Frauen ... Ich habe von dieser Straße eine Radierung gemacht, die nicht allzu schlecht ist. Wenn Sie zu mir kommen, zeige ich sie Ihnen ... Dorthin wollen Sie also?«

      Erleichtert und aufgemuntert durch die Nachricht, daß die Rue Pirouette noch vorhanden war, beteuerte Florent, er wolle nicht dorthin, und versicherte, er müsse nirgendwohin. Sein ganzes Mißtrauen erwachte wieder bei Claudes Beharrlichkeit.

      »Das macht nichts«, erklärte der, »gehen wir trotzdem zur Rue Pirouette. Nachts ist sie von einer Farbe! Kommen Sie, es sind nur zwei Schritt.«

      Florent mußte ihm folgen. Sie gingen Seite an Seite wie zwei Kameraden und stiegen dabei über die Körbe und das Gemüse hinweg. Auf dem Pflaster der Rue Rambuteau lagen riesige Stapel von Blumenkohlköpfen, die mit überraschender Regelmäßigkeit wie Kanonenkugeln aufgeschichtet waren. Das weiße und zarte Fleisch des Kohls erblühte wie ungeheure Rosen inmitten der dicken grünen Blätter, und die Haufen glichen auf Riesenblumentischen aufgereihten Brautsträußen. Claude blieb stehen und stieß leise Bewunderungsrufe aus.

      Dann zeigte er auf die vor ihnen liegende Rue Pirouette und erklärte jedes Haus. Eine einzige Gaslaterne brannte an einer Ecke. Die zusammengehäuften, ausgebauchten Häuser streckten unten ihre Regenschutzdächer vor die »Bäuche schwangerer Frauen«, wie sich der Maler ausgedrückt hatte, neigten sich mit ihren Giebeln zurück und stützten sich gegenseitig mit den Schultern. Drei oder vier dagegen, die ganz hinten in dem dunklen Loch standen, schienen jeden Augenblick auf die Nase fallen zu wollen. Die Gaslaterne beleuchtete eines davon, das ganz weiß und neu getüncht war, mit seiner Gestalt einer alten gebrechlichen und schlaff gewordenen Frau, die über und über weiß gepudert und grell geschminkt ist wie ein junges Mädchen. Dahinter erstreckte sich die verbeulte Reihe der anderen und versank in tiefes Schwarz, rissig und grün geworden durch den abfließenden Regen, und in solch einem Durcheinander von Farben und Formen, daß Claude vor Entzücken darüber lachte. Florent war an der Ecke der Rue Mondétour gegenüber dem vorletzten Haus zur Linken stehengeblieben. Die drei Stockwerke mit ihren zwei Fenstern ohne Jalousien und ihren kleinen weißen, hinter den Scheiben sorgfältig zugezogenen Vorhängen schliefen. Oben ging hinter den Vorhängen eines schmalen Giebelfensters ein Licht hin und her. Aber der Laden unter dem Regenschutzdach schien Florent in ungewöhnliche Erregung zu versetzen. Eben wurde er geöffnet. Es war ein Laden, in dem es gekochtes Gemüse gab. Im Hintergrund glänzten Kochkessel. Spinat und Schikoreepasteten in Terrinen auf dem Auslagetisch waren abgerundet und liefen spitz aus, bereits aufgeschnitten mit kleinen Schaufeln, von denen nur der blanke Metallgriff zu sehen war. Bei diesem Anblick blieb Florent wie festgenagelt stehen. Er erkannte den Laden wohl nicht wieder. Er las den Namen des Kaufmanns Godebœuf auf einem roten Schild und verharrte bestürzt. Die Arme hängen lassend, betrachtete er die Spinatpasteten mit dem verzweifelten Gesicht eines Menschen, dem ein außerordentliches Mißgeschick widerfährt.

      Inzwischen hatte sich das Giebelfenster geöffnet; eine kleine alte Frau beugte sich heraus, blickte nach dem Himmel und dann weiter zu den Markthallen hinüber.

      »Sieh einmal an! Mademoiselle Saget ist ja früh auf«, sagte Claude, der in die Höhe gesehen hatte. Und er fügte hinzu, sich an seinen Begleiter wendend: »Ich habe eine Tante in diesem Hause gehabt. Das ist hier vielleicht eine Klatschbude ... Ah! Jetzt regt es sich bei Méhudins; im zweiten Stock brennt Licht.«

      Florent wollte Fragen an ihn richten, aber er fand ihn besorgniserregend in seinem weiten, verschossenen Mantel; er folgte ihm weiter, ohne ein Wort zu sagen, während der andere von Méhudins erzählte. Sie seien Fischhändlerinnen. Die ältere sei prachtvoll, die jüngere, die Süßwasserfische verkaufe, ganz blond und ähnele inmitten ihrer Karpfen und Aale einer Madonna von Murillo. Und ärgerlich bemerkte er dabei, daß Murillo8 doch wie ein toller Bursche male. Dann blieb er plötzlich mitten auf der Straße stehen:

      »Also, wohin gehen Sie nun eigentlich?«

      »Ich will im Augenblick nirgendwohin«, antwortete Florent niedergedrückt. »Gehen wir, wohin Sie wollen.«

      Als sie aus der Rue Pirouette kamen, wurde Claude von einer Stimme hinten aus dem Laden eines Weinhändlers an der Ecke angerufen. Claude trat ein und zog Florent mit sich. Nur an der einen Seite waren die Fensterläden abgenommen. Das Gas brannte in der noch schläfrigen Luft des Raums; ein vergessener Lappen und Karten vom Abend vorher lagen auf den Tischen herum, und der Luftzug von der großen offenen Tür drang frisch und scharf in den warmen, eingeschlossenen Weindunst. Der Wirt, Herr Lebigre, bediente die Gäste in einer Unterjacke, seine Bartkrause noch ganz zerzaust und sein grobes, regelmäßiges Gesicht ganz blaß vom Schlaf. Männer mit blauen Rändern um die Augen standen in Gruppen vor der Theke, tranken hustend und spuckend und machten sich mit Weißwein und Schnaps vollends wach. Florent erkannte Lacaille, dessen Sack jetzt von Gemüse überquoll. Er war bei der dritten Runde mit einem Kumpel, der lang und breit vom Kauf eines