Emile Zola

Der Bauch von Paris: mehrbuch-Weltliteratur


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Tag bezahlt hatte; es hatte Austern gegeben, Fisch, Wild. Aber Baratte sei sehr heruntergekommen; der ganze Karneval des alten Marché des Innocents9 sei jetzt zu Grabe getragen. Man habe ihn in den Zentralmarkthallen, in diesem Eisenkoloß, in dieser neuen, so eigenartigen Stadt. Die Schwachköpfe mochten sagen, was sie wollten, das ganze Zeitalter sei da enthalten. Und Florent wußte nicht mehr, ob er die malerische Gegend oder das gute Essen bei Baratte verwünschte. Dann schimpfte Claude auf die Romantik; er zog seine Kohlhaufen dem Plunder des Mittelalters vor. Schließlich warf er sich seine Radierung von der Rue Pirouette vor wie eine Schwäche. Die alten Buden solle man dem Erdboden gleichmachen und Modernes schaffen.

      »Hier«, sagte er stehenbleibend, »sehen Sie an der Ecke des Bürgersteigs! Ist das nicht ein richtiges Gemälde, das menschlicher wäre als deren vermaledeite schwindsüchtige Malereien?«

      Längs der überdachten Straße verkauften Frauen jetzt Kaffee und Suppe. An der Ecke des Bürgersteigs hatte sich um eine Händlerin, die Kohlsuppe ausschenkte, ein großer Kreis von Kunden gebildet. Der verzinnte Weißblecheimer mit Brühe dampfte auf einem kleinen, niedrigen Kohlenbecken, dessen Löcher einen fahlen Glutschein ausstrahlten. Die Frau war mit einem Schöpflöffel ausgerüstet, schwappte die Suppe in gelbe Tassen und entnahm einem mit Leinwand ausgeschlagenen Korb dünne Brotscheiben. Sehr reinliche Händlerinnen, Gemüsebauern in Kitteln, schmutzige Lastträger in Überziehern, die von den auf den Schultern herumgeschleppten Lebensmittelladungen speckig waren, zerlumpte arme Teufel, alle, die morgens Hunger hatten in den Markthallen, standen dort, aßen, verbrannten sich, streckten das Kinn ein wenig vor, um sich nichts vom Löffel auf die Kleidung tropfen zu lassen. Entzückt kniff der Maler die Augen zusammen und suchte den Blickpunkt, um das Gemälde auf eine gute Gesamtwirkung hin zu gliedern. Aber diese verteufelte Kohlsuppe verbreitete einen entsetzlichen Gestank. Belästigt durch die vollen Tassen, die die Essenden stillschweigend mit dem scheelen Blick mißtrauischer Tiere leerten, wandte Florent den Kopf ab. Claude selber wurde mürbe, als die Frau einen Neuangekommenen bediente und ihm der starke Dampf eines Löffels voll Suppe mitten ins Gesicht wehte.

      Lächelnd und unwillig zog er seinen Gürtel enger; beim Weitergehen meinte er dann, auf das von Alexandre gespendete Glas Punsch anspielend, halblaut zu Florent:

      »Das ist komisch. Es muß Ihnen auch schon aufgefallen sein? – Immer findet man jemand, der einem was zu trinken bezahlt, aber man begegnet niemand, der einem was zu essen bezahlt.«

      Der Tag brach an. Am Ende der Rue de la Cossonnerie standen ganz schwarz die Häuser des Boulevard Sébastopol; und oberhalb der deutlichen Linie der Schieferdächer schnitt das hohe Bogengerüst der großen überdachten Straße einen Halbmond von Helligkeit aus dem fahlen Blau. Claude hatte sich über einige vergitterte Luken gebeugt, die sich in Höhe des Bürgersteigs über den Kellertiefen auftaten, in denen trübe Gaslichter brannten, und schaute jetzt zwischen den hohen Pfeilern hindurch in die Luft und suchte etwas auf den blau wirkenden Dächern am Rande des hellen Himmels. Schließlich blieb er abermals stehen, die Augen auf eine der dünnen eisernen Leitern gerichtet, die die beiden Dachgeschosse miteinander verbinden und den Zugang zu ihnen ermöglichen.

      Florent fragte ihn, was er da oben sehe.

      »Dieser verteufelte Marjolin«, sagte der Maler, ohne darauf zu antworten. »Sicher liegt er in irgendeiner Dachrinne, wenn er nicht gar die Nacht mit den Tieren im Geflügelkeller verbracht hat ... Ich brauche ihn für eine Studie.« Und er erzählte, daß sein Freund Marjolin eines Morgens von einer Händlerin in einem Kohlhaufen gefunden worden und ungebunden auf der Straße aufgewachsen sei. Als man ihn in die Schule schicken wollte, wurde er krank; und man mußte ihn in die Markthallen zurückbringen. Er kannte ihre kleinsten Schlupfwinkel, liebte sie mit der Zärtlichkeit eines Sohnes, hauste mit der Behendigkeit eines Eichhörnchens inmitten dieses Eisenwaldes. Sie gaben ein hübsches Paar ab, er und dieses Frauenzimmer, die Cadine, die Mutter Chantemesse eines Abends an der Ecke des alten Marché des Innocents aufgelesen hatte. Er war prächtig, dieser große dumme Junge, goldbraun wie ein Rubens, mit einem rötlichen Bartflaum, in dem das Tageslicht hängenblieb; sie, die Kleine, war schmächtig und gerissen und hatte ein neckisches Frätzchen unter dem schwarzen Gestrüpp ihres Kraushaars.

      Beim Sprechen beschleunigte Claude seine Schritte. Er brachte seinen Begleiter zur Pointe SaintEustache zurück, der sich hier in der Nähe des Omnibusbüros auf eine Bank fallen ließ und dem die Beine wieder wie zerschlagen waren. Die Luft wurde frischer. Hinten in der Rue Rambuteau war der milchige Himmel von rosigem Schein geädert und weiter oben von großen grauen Rissen zersäbelt. Von dieser Morgenröte ging ein so balsamischer Duft aus, daß Florent für einen Augenblick glaubte, draußen auf dem Lande zu sein, auf irgendeinem Hügel. Aber Claude zeigte ihm auf der anderen Seite der Bank den Gewürzmarkt. Längs des Kaldaunenmarktes hätte man meinen können, in Feldern von Thymian, Lavendel, Lauch und Schalotten versetzt zu sein; und um die jungen Platanen auf dem Bürgersteig hatten die Händlerinnen lange Lorbeerzweige geschlungen, die Trophäen von Grün abgaben. Der kräftige Duft des Lorbeers überwog alles.

      Das beleuchtete Zifferblatt von SaintEustache verblich, starb hin wie ein vom Morgen überraschtes Nachtlicht. Bei den Weinhändlern hinten in den benachbarten Straßen erloschen eine nach der andern die Gaslampen wie in Licht fallende Sterne. Und Florent sah zu, wie die großen Hallen aus dem Dunkel, aus dem Traum hervortraten, in dem er sie gesehen hatte, und ihre Paläste sich grenzenlos im Tageslicht dehnten. Sie nahmen feste Formen von grünlichem Grau an, wurden noch riesenhafter mit ihrem gewaltigen Mastwerk, das die unendlichen Flächen ihrer Dächer trug. Sie schichteten ihre geometrischen Körper aufeinander, und als alle innere Helligkeit erloschen war und sie viereckig und gleichförmig im aufgehenden Tageslicht badeten, erschienen sie wie eine über alles Maß hinausgehende große moderne Maschine, wie eine Dampfmaschine, ein für die Verdauung eines ganzen Volkes bestimmter Kessel, ein riesiger metallischer Bauch, verbolzt, vernietet, aus Holz, Glas und Eisen zusammengesetzt, von der Eleganz und Leistungsfähigkeit eines Antriebmotors, der dort in Tätigkeit war mit der Hitze der Heizung, dem schwindelnden Drehen, dem rasenden Beben der Räder.

      Claude aber war vor Begeisterung auf die Bank gestiegen. Er zwang seinen Begleiter, den über dem Gemüse aufgehenden Tag zu bewundern. Es war ein Meer, das sich zwischen den beiden Gruppen der Hallen von der Pointe SaintEustache bis zur Rue des Halles erstreckte. Und an beiden Enden, an den beiden Kreuzungen, stieg die Flut noch an, überschwemmte das Gemüse das Pflaster. Langsam erhob sich der Tag in ganz zartem Grau und wusch alle Dinge in einem hellen Aquarellton. Diese wie dichte Wellen wogenden Haufen und dieser Strom von Grün, der in der Eindeichung des Fahrdamms zu fließen schien gleich dem Hereinbrechen der Herbstregen, nahmen zarte und beperlte Schatten, weiches Veilchenblau, milchig getöntes Rosa, in Gelb ertrunkenes Grün, alle bleichen Farben an, die beim Sonnenaufgang den Himmel zu schillernder Seide werden lassen; und in dem Maße, wie der Brand des Morgens in Stichflammen hinten in der Rue Rambuteau emporstieg, erwachte das Gemüse mehr und mehr und stach ab von der tiefen Bläue, die sich schwer über die Erde hinzog. Salat, Endivie, Lattich, Schikoree zeigten, noch von der fetten Gartenerde bedeckt, ihre strahlenden Herzen; die Spinat und Ampferpacken, die Artischockensträuße, die Bohnen und Erbsenhaufen, die Stapel von mit Strohhalmen zusammengebundenem römischem Salat sangen die ganze Tonleiter des Grüns vom Lackgrün der Schoten bis zum derben Grün der Blätter, eine anhaltende Tonleiter, die erst bei den Flecken der Selleriestengel und den Porreebunden erstarb. Aber die gellendsten Töne, die am lautesten erklangen, waren noch immer die lebhaften Flecke der Möhren und die reinen Flecke der Kohlrüben, die in ungeheurer Menge über den ganzen Markt verstreut waren und ihn mit der grellen Zusammenstellung ihrer beiden Farben erhellten. An der Kreuzung der Rue des Halles türmte sich der Kohl zu Bergen: riesige Köpfe Weißkohl, fest und hart wie Kugeln aus bleichem Metall, Wirsingkohl, dessen große Blätter flachen Bronzebecken ähnelten, Rotkohl, den die Morgenröte in herrliche weinrote Blütenpracht mit karmin und dunkelpurpur Druckstellen verwandelte. Am anderen Ende, an der Kreuzung bei der Pointe SaintEustache, war der Zugang zur Rue Rambuteau durch eine Barrikade von orangefarbenen Kürbissen versperrt, die sich in zwei Reihen zur Schau stellten und ihre Bäuche vorstreckten. Und hier und da entflammten der Goldkäferlack eines Korbes Zwiebeln, das blutige Rot eines Haufens Tomaten, das verwischte Gelb einer Ladung Gurken, das dunkle Violett einer Traube Eierfrüchte, während große, zu Trauertüchern nebeneinandergelegte Schwarzrettiche Löcher