Emile Zola

Lourdes


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er sein Priestertum nicht hochgehalten, hatte er nicht alle Werke der christlichen Liebe ausgeübt, ohne jede Hoffnung auf eine zukünftige Belohnung? So hatte er sich schließlich beruhigt, stolz und mit hocherhobenem Haupte, in der trostlosen Größe eines Priesters durch die Welt zu gehen, der nicht mehr glaubt und doch fortfährt, über den Glauben der anderen zu wachen. Er stand gewiß nicht allein, er wußte, daß er Brüder hatte, Priester, die dem Zweifel verfallen waren, die aber dennoch am Altare blieben, wie Soldaten ohne Vaterland, und die den Mut hatten, den frommen Betrug auf die kniende Menge herabstrahlen zu lassen.

      Seit seiner vollständigen Genesung hatte Pierre sein Amt an der kleinen Kirche zu Neuilly wieder übernommen. Jeden Morgen las er seine Messe. Er war fest entschlossen, jede andere Stellung, jede Beförderung abzulehnen. So gingen Monate, Jahre dahin. Hartnäckig blieb er bei seinem Vorsatze, nur ein gewöhnlicher Priester zu sein, der unbekannteste und niedrigste der Priester, die man in einem Kirchspiel duldet, die erscheinen und wieder verschwinden, wenn sie ihre Pflicht erfüllt haben. Jede höhere Würde wäre ihm nur wie eine Verschlimmerung seiner Lage vorgekommen, wie ein Raub, den er an Würdigeren beging. Er mußte sich wehren gegen die Anerbieten, denn seine Verdienste konnten nicht unbeachtet bleiben. Man wunderte sich im erzbischöflichen Palaste über diese eigensinnige Bescheidenheit. Man wollte die Kraft, die man in ihm ahnte, nutzbar machen. Nur zuweilen empfand er es mit bitterem Bedauern, daß er sich nicht nützlich machte, daß er nicht an einem großen Werke arbeitete, an der Wiederherstellung des Friedens auf der Erde, an dem Heile und dem Glücke aller. Glücklicherweise waren seine Tage frei, und er tröstete sich durch wahre Arbeitswut. Alle Bücher der Bibliothek seines Vaters wurden verschlungen. Dann nahm er seine Studien und Untersuchungen wieder vor und beschäftigte sich eifrig mit der Geschichte der Völker, von dem Wunsche erfüllt, dem sozialen und religiösen Übel auf den Grund zu kommen. Er wollte sich Klarheit verschaffen, ob denn wirklich gar keine Hilfe vorhanden wäre.

      Eines Morgens hatte Pierre, als er in einer der großen Schubladen kramte, die sich unten in den Bibliothekschränken befanden, ein Bündel Abhandlungen und Akten über die Erscheinungen von Lourdes entdeckt. Es befanden sich darunter die vollständigen Dokumente, Abschriften der Verhöre der Bernadette, der behördlichen Protokolle, der Polizeiberichte und der ärztlichen Konsultationen, dazu Privatbriefe und vertrauliche Schreiben vom höchsten Interesse. Er war sehr erstaunt über diesen Fund und hatte den Doktor Chassaigne darüber befragt, der sich auch erinnerte, daß sein Freund, Michel Froment, sich leidenschaftlich mit dem Fall der Bernadette beschäftigt hatte. Er selbst, der aus einem in der Nachbarschaft von Lourdes gelegenen Dorfe stammte, hatte dem Chemiker einen Teil dieser Akten verschafft. Pierre hatte sich einen Monat lang leidenschaftlich mit der Sache beschäftigt, von der reinen Gestalt der Seherin wunderbar angezogen, zugleich aber auch empört über das, was später geschehen war, über den rohen Fetischismus, über den jammervollen Aberglauben, über die triumphierende Geschäftstüchtigkeit. In seinem Ringen mit dem Unglauben schien diese Geschichte nur dazu zu dienen, die Niederlage des Glaubens zu beschleunigen. Zugleich aber war sie auch derart, daß sie seine Wißbegierde reizte. Er hätte gern eine Untersuchung angestellt, die wissenschaftliche Wahrheit festgestellt und dem reinen Christentum den Dienst erwiesen, es von dieser Schlacke zu befreien. Er hatte sein Studium aufgeben müssen, da er vor einer Reise nach der Grotte zurückschreckte und die übergroßen Schwierigkeiten erkannte, die ihm die Beschaffung der ihm fehlenden Aufschlüsse machte. So lebte in ihm nur seine zärtliche Liebe für Bernadette fort, an die er nie ohne eine wunderbar rührende Empfindung und ohne unendliches Mitleid denken konnte.

      Die Tage schwanden dahin. Pierres Leben wurde immer einsamer. Doktor Chassaigne war plötzlich nach den Pyrenäen gereist. Er hatte seine Praxis aufgegeben und seine kranke Frau nach Cauterets gebracht, die, wie er und seine Tochter mit Bekümmernis sahen, täglich mehr und mehr dahinschwand. Seit dieser Zeit war es in dem kleinen Haus in Neuilly ganz einsam geworden. Pierre hatte keine andere Zerstreuung als die Besuche, die er von Zeit zu Zeit bei Guersaints machte. Sie waren schon lange aus dem Nachbarhaus fortgezogen und hatten sich in einer elenden Straße des Stadtviertels in einer kleinen Wohnung eingemietet. Die Erinnerung seines ersten Besuches dort lebte noch so in ihm, daß er jedesmal einen Stich in seinem Herzen verspürte, wenn er sich seine Aufregung beim Anblick der armen Marie wieder ins Gedächtnis zurückrief.

      Er erwachte aus seinen Träumereien, sah sich um und bemerkte Marie ausgestreckt auf der Bank liegen, so, wie er sie damals wiedergefunden hatte, gefesselt an ihren einer Dachrinne ähnlichen Sarg, an dem man Räder anbringen konnte, um sie fortzubewegen. Sie, die einst übersprudelte, immer bereit, zu lachen und zu springen, litt unter der Untätigkeit und dem erzwungenen Stilliegen. Nur ihre Haare hatten sich erhalten. Sie umhüllten sie wie ein goldener Mantel. Sie selbst war so abgemagert, daß sie kleiner geworden zu sein und die Finger eines Kindes wiederbekommen zu haben schien. Was aber in diesem bleichen Gesichte am schmerzlichsten berührte, das waren die leeren, starren Blicke, die nichts sahen, die einen Ausdruck des vollständigen Aufgehens in ihrer Krankheit hatten. Dennoch bemerkte sie, daß er sie ansah, und wollte ihm zulächeln. Nur Klagelaute entschlüpften den Lippen dieses armen, gelähmten Wesens, das überzeugt war, es würde vor dem Wunder sterben! Er war tief erschüttert. Er hörte nur noch sie, er sah nur noch sie unter allen den anderen Kranken, die der Wagen beherbergte, gleichsam als ob sie all die anderen Qualen in dem Todeskampf ihrer Schönheit, ihres Frohsinns und ihrer Jugend zusammenfaßte.

      Allmählich kehrte Pierre, ohne daß seine Augen Marie verließen, in die Vergangenheit zurück. Er durchkostete noch einmal die Stunden, die er in ihrer Nähe verlebt hatte, wenn er in die armselige Wohnung hinaufgestiegen war, um ihr Gesellschaft zu leisten. Herr von Guersaint hatte sich vollständig ruiniert, da er sich in den Kopf gesetzt hatte, die Fabrikation von Heiligenbildern zu verbessern, deren Mittelmäßigkeit ihn ärgerte. Sein letztes Vermögen hatte der Bankerott eines Farbendruckgeschäftes verschlungen. In seiner Zerstreutheit und seinem Mangel an Umsicht bemerkte er gar nichts von der peinlichen Lage, die sich immer mehr verschlimmerte. In seiner kindlichen Liebe verließ er sich ganz auf den lieben Gott und war schon wieder mit dem Problem der Lenkbarkeit der Luftballons beschäftigt, ohne zu sehen, welch übermenschliche Anstrengungen seine ältere Tochter Blanche machen mußte, um wenigstens den Lebensunterhalt für die kleine Familie zu erwerben, für ihre beiden Kinder, wie sie ihren Vater und ihre Schwester nannte. Blanche schaffte das nötige Geld, das die Pflege Mariens erforderte, herbei, indem sie vom Morgen bis zum Abend in ganz Paris bei Hitze und Regen umherlief und französischen Sprachunterricht und Klavierstunden erteilte. Marie war oft der Verzweiflung nahe, brach in Tränen aus und klagte sich an, daß sie die Hauptursache des Zusammenbruchs der Familie sei, weil man ihretwegen schon seit so vielen Jahren die Ärzte bezahlen mußte, und sie in alle nur denkbaren Bäder gebracht hätte. Jetzt hatten die Ärzte sie nach zehnjähriger Behandlung aufgegeben. Die einen meinten, daß die großen Sehnen zerrissen wären, die anderen glaubten an das Vorhandensein einer Geschwulst, während die dritten sagten, die Lähmung käme vom Rückenmark. Und da sie jede genauere Untersuchung aus jungfräulichem Schamgefühl ablehnte und die Ärzte keine eingehenderen Fragen zu stellen wagten, so hielt jeder an seiner Erklärung fest, daß sie nicht wieder geheilt werden könne. Sie rechnete auf nichts anderes als auf die Hilfe Gottes, da sie seit ihrem Kranksein nur noch Tröstung in ihrem inbrünstigen Glauben fand. Ihr größter Kummer war, daß sie nicht in die Kirche gehen konnte, und sie las die Messe an jedem Morgen.

      In diesem Augenblicke stieg Pierre eine neue Erinnerung auf. Es war an einem Abend, bevor man noch die Lampe angezündet hatte. Er saß bei ihr in der Dunkelheit. Plötzlich sagte ihm Marie, daß sie nach Lourdes gehen wollte und daß sie überzeugt wäre, sie würde von dort geheilt zurückkehren. Er hatte bei ihren Worten ein heftiges Unbehagen empfunden und, sich völlig vergessend, gerufen, es wäre eine Torheit, an dergleichen fromme Märchen zu glauben. Niemals hatte er mit ihr über Religion gesprochen. Er hatte sich stets geweigert, ihre Beichte zu hören und sie in den großen und kleinen Gewissensnöten, die sie als Gläubige hatte, auf den rechten Weg zu leiten. Scham und Mitleid hielten ihn davon ab. Er würde schwer darunter gelitten haben, wenn er sie hätte belügen müssen, und andererseits würde er sich für einen Verbrecher angesehen haben, wenn er auch nur mit einem Hauche den großen, reinen Glauben getrübt hätte, der sie stark gegen das Leiden machte. Daher hatte er auch den Ausruf bereut, den er nicht hatte zurückhalten können. Da hatte er gefühlt, wie die kleine, kalte Hand der