Emile Zola

Lourdes


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      Ohne zu antworten, verschwand die Schwester in dem Gewühle. Sie war klein, fein und zart, mit stillen Gesichtszügen und Märchenaugen und dabei unermüdlich tätig.

      Pierre, der in der andern Abteilung stand und dem Vorgange gefolgt war, erlaubte sich eine Bemerkung.

      »Sollte man nicht vielleicht auch den Arzt holen?«

      »Gewiß, ich dachte auch schon daran«, antwortete Schwester Hyacinthe. »Oh, Herr Abbé, würden Sie wohl so liebenswürdig sein und selbst zu ihm laufen?«

      Pierre war gerade im Begriff, in die Kantine im Packwagen zu gehen, um für Marie eine Bouillon zu holen. Die Kranke, die sich etwas leichter fühlte, seitdem sie nicht mehr hin und her geschüttelt wurde, hatte die Augen geöffnet und sich von ihrem Vater in die Höhe setzen lassen. Sie hätte gar zu gerne gehabt, wenn man sie nur einen Augenblick an die frische Luft getragen hätte. Aber sie fühlte, daß dies zuviel verlangt wäre, daß es zuviel Mühe machen würde, sie dann wieder in den Wagen hineinzuschaffen. Herr von Guersaint, der wie die meisten Pilger und Kranken in dem Wagen gefrühstückt hatte, blieb in der Nähe der offenstehenden Wagentür, um eine Zigarette zu rauchen, während Pierre in die Kantine im Packwagen eilte, wo sich der diensthabende Arzt aufhielt.

      In dem Wagen waren noch andere Kranke geblieben, die man unmöglich hätte herausschaffen können. Die Grivotte hatte Erstickungsanfälle und phantasierte. Sie hielt auch Frau von Jonquière im Wagen fest, die sich mit ihrer Tochter Raymonde, mit Frau Volmar und Frau Desagneaux am Büfett verabredet hatte, um dort zusammen zu frühstücken. Aber wie konnte sie dieses unglückliche Geschöpf, das im Todeskampfe zu liegen schien, ganz allein auf der harten Bank lassen? Herr Sabathier erwartete, an seinen Platz festgeschmiedet, seine Gattin, die fortgegangen war, um ihm eine Weintraube zu holen, während Martha ihren Bruder nicht verließ, dessen leises Wehklagen noch immer fortdauerte. Die anderen, die gehen konnten, drängten nach den Türen hin, um auszusteigen, in der Absicht, nach siebenstündiger Fahrt nur einen kurzen Augenblick aus diesen Wagen voll Jammer und Elend herauszukommen. Frau Maze war sofort beiseite geschlichen und hatte einen einsamen Winkel des Bahnhofs aufgesucht, wo sie sich wieder in ihre Melancholie vergrub. Ganz stumpfsinnig vor Schmerz hatte Frau Vêtu die Kraft besessen, einige Schritte zu tun und sich im vollen Sonnenscheine, dessen Brennen sie nicht einmal fühlte, auf eine Bank zu setzen, während Elise Rouquet, die ihr Gesicht wieder mit dem schwarzen Tuche umwickelt hatte, einen Brunnen suchte, von dem Verlangen nach frischem Wasser verzehrt. Frau Vincent wandelte, ihre kleine Rose auf dem Arm, mit langsamen Schritten auf und ab, lächelte zärtlich auf sie herab und suchte sie zu erheitern, indem sie ihr rohbemalte Bilder zeigte, die das schwerkranke Kind anstarrte, ohne etwas davon zu sehen.

      Indessen hatte Pierre die größte Mühe, sich durch die Menschenmenge, die den Bahnsteig überflutete, einen Weg zu bahnen. Mehr als tausend Menschen wogten hin und her und drängten sich mühsam aneinander vorbei. Jeder Wagen hatte seine elenden Insassen herausgelassen, wie ein Hospitalssaal, den man ausräumt. Man konnte jetzt sehen, welch eine entsetzliche Menge von Leiden dieser schreckliche weiße Zug mit sich führte. Hier schleppten sich einige Kranke mühsam fort, dort wurden andere getragen und viele blieben auf dem Perron eng zusammengedrückt liegen. Schreie wurden laut und heftige Rufe, und ununterbrochen gab es ein Hasten und Drängen nach der Bahnhofsrestauration. Jeder beeilte sich, seine Bedürfnisse zu befriedigen. Er war so kurz, dieser Aufenthalt von einer halben Stunde, der einzige, den man bis nach Lourdes haben sollte. Den einzig heiteren, erbaulichen Anblick mitten unter den schwarzen Soutanen, den abgetragenen Kleidern der armen Leute, die keine bestimmte Farbe mehr hatten, bot das lachende Weiß der kleinen Schwestern von Mariä Himmelfahrt, die in ihren schneeigen Hauben, Schleiern und Schürzen geschäftig hin und her eilten.

      Als Pierre endlich an den Kantinenwagen in der Mitte des Zuges kam, fand er ihn vollständig umlagert. Ein Petroleumherd befand sich dort und eine kleine Kücheneinrichtung. Die Bouillon, aus konzentrierter Brühe hergestellt, kochte in schmiedeeisernen Töpfen. Von der in Flaschen eingeschlossenen kondensierten Milch war nur so viel verdünnt und genießbar gemacht worden, als wirklich gebraucht wurde. Verschiedene andere Vorräte waren auf Brettern aufgestapelt, Biskuit, Früchte und Schokolade. Aber beim Anblick der vielen Hände, die sich ihr gierig entgegenstreckten, verlor die Schwester SaintFrançois, die mit der Leitung der Küche betraut war, eine kleine, dicke Frau von fünfundvierzig Jahren, von gutem, frischen Aussehen, den Kopf. Sie mußte die Verteilung fortsetzen, während sie Pierre anhörte, der nach dem Arzte fragte. Als ihr der Priester nähere Erklärungen gab und von dem armen Manne berichtete, der im Sterben lag, ließ sie eine andere an ihren Platz treten, da sie selbst nach dem Unglücklichen sehen wollte.

      »Liebe Schwester, ich bin auch hierhergekommen, um Sie um eine Bouillon für eine Kranke zu bitten.«

      »Gut, Herr Abbé. Ich werde sie bringen. Gehen Sie nur voraus.«

      Der Arzt und der Abbé beeilten sich, und tauschten unterwegs rasch einige Fragen und Antworten aus. Ihnen folgte Schwester SaintFrançois, welche die Tasse Bouillon vorsichtig durch die Menschenmenge trug. Der Arzt war ein brünetter Mann von ungefähr achtundzwanzig Jahren, mit dem Kopfe eines jungen römischen Cäsaren, eine Gestalt, wie sie noch den sonnenverbrannten Gefilden der Provence entsproßt. Sobald Schwester Hyacinthe ihn erblickte, rief sie erstaunt aus:

      »Wie, Sie sind es, Herr Ferrand?«

      Sie waren beide auf das höchste verwundert über dieses Zusammentreffen. Die Schwestern von Mariä Himmelfahrt haben die schwere Aufgabe, Kranke zu pflegen, und zwar nur die armen Kranken, die nicht zahlen können, die in elenden Dachkammern mit dem Tode ringen. Sie richten sich häuslich ein in der Nähe des armseligen Lagers, leisten den Kranken alle erdenklichen Dienste, besorgen die Küche und die Haushaltung und leben als Dienerinnen und als Verwandte bis zur Genesung oder bis zum Tode des Kranken. So hatte sich auch eines Tages Schwester Hyacinthe mit ihrem jugendfrischen, milchweißen Gesicht des jungen Mediziners, der damals noch studierte und von einem typhösen Fieber befallen war, angenommen. Wegen seiner großen Armut bewohnte er in der Rue de Four ein kellerartiges Loch, das nicht geheizt werden konnte. Sie hatte ihn nicht mehr verlassen, sie hatte ihn gerettet in ihrer Leidenschaft, für andere zu leben, sie, die einst als kleines Mädchen an einer Kirchentüre gefunden worden war, und die keine andere Familie hatte als die Leidenden, denen sie sich widmete mit ihrem heißen Verlangen nach Liebe. Und welch köstlicher Monat folgte dann, welch vortreffliche Kameradschaft in diesem reinen, durch das Leiden herbeigeführten geschwisterlichen Verhältnisse! Wenn er sie »liebe Schwester« nannte, so war es wirklich seine Schwester, mit der er sprach. Sie war aber zugleich auch seine Mutter, die ihn in die Höhe richtete und wieder in die Kissen bettete wie ihr Kind, ohne daß irgendein anderes Band zwischen ihnen bestanden hätte als wie das innigste Mitleid, die göttliche Liebe der Barmherzigen.

      »O Schwester Hyacinthe! Schwester Hyacinthe!« flüsterte er entzückt.

      Ein Zufall hatte sie einander wieder zu Gesicht gebracht; denn Ferrand war kein Gläubiger, und wenn er sich hier befand, so kam das nur daher, daß er in der letzten Minute sich bereit erklärt hatte, für einen Freund einzuspringen, der plötzlich verhindert worden war. Seit beinahe einem Jahre war er Assistenzarzt an der Pitié

      Die Freude des Wiedersehens ließ sie den Kranken vergessen. Sie faßte sich zuerst wieder.

      »Sehen Sie, Herr Ferrand, hier ist der arme Mensch! Wir hielten ihn schon einen Augenblick für tot ... Seit Amboise macht er uns viel Sorge und Angst, und ich habe soeben nach dem geweihten Öle geschickt ... Glauben Sie auch, daß es so schlimm mit ihm steht? Können Sie ihm nicht etwas Lebenskraft einflößen?«

      Der junge Arzt untersuchte ihn. Die Teilnahme der anderen Kranken, die in dem Wagen geblieben waren, wurde wach. Marie, der Schwester SaintFrançois die Tasse Bouillon gereicht hatte, hielt sie mit so heftig zitternder Hand, daß Pierre sie ihr wieder abnehmen und versuchen mußte, ihr den Trank einzuflößen. Aber sie konnte nicht trinken. Ihre Augen ruhten starr und in banger Erwartung auf dem Manne, gleich als ob es sich um ihr eigenes Leben gehandelt hätte.

      »Sagen Sie mir«, sagte Schwester Hyacinthe von neuem, »wie finden Sie ihn? Welche Krankheit hat er?«

      »Oh, welche Krankheit!« murmelte Ferrand. »Er